"Oft gibt es die Vorstellung, dass Menschen die nicht lesen und schreiben können, dumm sind. Das ist aber nicht der Fall. Kognitive Einschränkungen sind nur ganz selten der Grund", so ORF-Reporterin Julia Kovarik. Für ihre "Schauplatz"-Sendung "Niemand soll es wissen" hat sie mit Betroffenen gesprochen.

Foto: ORF

Beim Einkaufen orientiert sich Kurt an den Bildern auf den Verpackungen.

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"Wenn ich einen Text angeschaut habe, habe ich nur Punkte, Kugeln und Striche gesehen, die keinen Sinn ergeben haben": Sandra (rechts) mit ihrer Mutter.

Fast eine Million Menschen in Österreich hat Probleme mit dem Lesen und Schreiben, jeder oder jede Neunte kann dies nur unzureichend oder gar nicht, rund die Hälfte davon hat Deutsch als Erstsprache. Viele dieser Menschen haben erstaunliche Fähigkeiten entwickelt, um dieses Manko zu überspielen. ORF-"Schauplatz"-Reporterin Julia Kovarik hat für ihre Reportage "Niemand soll es wissen" – zu sehen am Donnerstag um 21.05 Uhr in ORF 2 – mit Betroffenen gesprochen und versucht herauszufinden, wie es passieren kann, dass man in Österreich neun Jahre zur Schule geht, Deutsch als Erstsprache hat und dennoch nicht lesen und schreiben lernt.

"Das ist also absolut kein Nischenthema, und trotzdem hört man so gut wie nichts davon. Genau mit diesen Menschen wollte ich sprechen", sagt Julia Kovarik zum STANDARD. "Mich hat interessiert, wie man sich durchs Leben wurschtelt, ohne lesen zu können, wie man sich in einer Welt zurechtfindet, die so sehr aufs Schriftliche ausgelegt ist, wie man einen Alltag bewältigt, in dem man ständig Buchstaben ausweichen muss. Und wie man mit dem Druck umgeht, das auch noch verheimlichen und kaschieren zu müssen. Analphabet zu sein ist mit einem Stigma behaftet. Das habe ich bei Gesprächen mit Betroffenen schnell mitbekommen. Viele Betroffene verheimlichen ihre Schwäche tatsächlich ein Leben lang. Welche Strategien haben sie entwickelt? Und welche speziellen Fähigkeiten, um die Schwäche zu kompensieren? Wie lebt man mit der ständigen Angst, aufzufliegen?"

Buchstaben als Punkte, Striche, Kugeln

In Salzburg hat Julia Kovarik die 34-jährige Sandra kennengelernt. Mit 15 hat Sandra die Schule beendet, sie konnte gerade einmal ihren Vornamen schreiben. "Wenn ich einen Text angeschaut habe, habe ich nur Punkte, Kugeln und Striche gesehen, die keinen Sinn ergeben haben." Sandra hat das viele Jahre verheimlicht, auch vor ihrer Mutter. "Eine meiner beliebtesten Ausreden war, dass ich meine Brille vergessen habe", erzählt sie. "Im Nachhinein muss ich sagen: Zu vertuschen, nicht lesen zu können, war anstrengender, als lesen zu lernen." Seit sie selbst Mutter geworden ist, besucht sie einen Basisbildungskurs für Erwachsene.

"Ich habe mich bewusst dafür entschieden, Menschen zu porträtieren, die eben keinen Migrationshintergrund haben, sondern sozusagen autochthone Österreicherinnen oder Österreicher sind. Ich dachte am Beginn der Recherche, dass das vermutlich nicht so schwierig wird, weil es ja so viele Betroffene gibt. Aber da habe ich mich geirrt", sagt Kovarik. "Ich gestalte seit 15 Jahren Reportagen für 'Am Schauplatz' und kann mich nicht erinnern jemals so viele Anbahnungsgespräche geführt zu haben wie für diese Reportage."

Verheimlichte Schwäche

Sie hat mit Personen, die an Alphabetisierungskursen für Erwachsene, sogenannten Basisbildungskursen, teilnehmen, Kontakt aufgenommen. "Ich habe wirklich sehr viel Gespräche geführt. Mit Männern, Frauen, Jungen, Alten, auf dem Land und in der Stadt. Die meisten stehen mitten im Leben, sind verheiratet und haben Berufe. Oft wissen nicht einmal die Ehepartner von deren Schwäche. Mich haben die einzelnen Geschichten sehr betroffen gemacht, auch wie sehr Menschen auf diese einzige Fähigkeit reduziert werden. Ich habe schließlich vier Menschen gefunden, die den Mut hatten, ihre Geschichte zu teilen. Ich habe großes Respekt vor diesem Schritt."

Eine von ihnen ist Sophie, sie lebt auf dem Land und ist sogenannte funktionale Analphabetin. Sophie kann grundsätzlich lesen und schreiben, bei längeren Texten hat sie Probleme, den Sinn zu erfassen. So wie Sophie geht es rund 750.000 Menschen in Österreich, rechnet Kovarik vor. "Ich kann einfach nicht nacherzählen, was ich gelesen habe", sagt Sophie. Wegen ihrer Leseschwäche hat sie Probleme, den Führerschein zu machen, und auch bei der Jobsuche. "Wenn man nicht gut lesen, schreiben und rechnen kann, wird man ausgelacht. Ich habe deshalb schon viele Freundschaften verloren", erzählt die 31-Jährige.

Kurt ist Legastheniker, hat nach einem Unfall länger in der Schule gefehlt und den Anschluss verpasst. Im Alltag versucht er, dem Lesen auszuweichen. Beim Einkaufen orientiert er sich an den Bildern auf den Verpackungen. "Schwierig wird es für mich dann, wenn sie die Verpackung ändern, dann finde ich nichts mehr ", sagt er.

"Thema aus dem Tabu holen"

"Ich hoffe, damit einen Beitrag zu leisten, das Thema mehr aus dem Tabu zu holen und dass offener darüber gesprochen wird. Weil es eben kein Nischenthema ist, sondern 17 Prozent der österreichischen Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren betrifft", sagt Kovarik. "Oft gibt es die Vorstellung, dass Menschen die nicht lesen und schreiben können, dumm sind. Das ist aber nicht der Fall. Kognitive Einschränkungen sind nur ganz selten der Grund. Wenn jemand nicht lesen und schreiben gelernt hat, ist dem fast immer ein Schicksalsschlag oder eine schwierige Familiengeschichte vorausgegangen. Dafür sollte man sich eigentlich nicht genieren müssen." (Astrid Ebenführer, 25.8.2022)