Die syrische Ernte-Helferin Maria kann in "Batata" nach Ausbruch des Krieges nicht in ihre Heimat zurückkehren – und das Kartoffelfeld im Libanon verwandelt sich immer mehr in ein Flüchtlingslager.

Foto: Six Island Production

Die große Qualität von Langzeitdokumentarfilmen liegt darin, dass sie offen für die Wendungen der Geschichte bleiben. In "Batata" sollte es eigentlich um die beispielhafte Zusammenarbeit einer syrischen Familie mit einem libanesischen Gemüsebauern nahe der Grenze der beiden Länder gehen. Dann kam der Krieg in Syrien dazwischen, und aus dem Film wurde eine Geschichte darüber, wie ein friedvolles, symbiotisches Miteinander mit aller Gewalt auseinandergerissen wird. Der Film feierte dieses Jahr auf dem kanadischen Filmfestival Hot Docs seine viel beachtete Premiere und wurde dieser Tage auf dem Festival von Kitzbühel zum ersten Mal in Österreich gezeigt.

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STANDARD: Den Film "Batata" haben Sie eigentlich als Porträt einer syrischen Wanderarbeiterin beabsichtigt. Wie hat der Krieg in Syrien sich dann in die Arbeit eingeschrieben?

Kevorkian: Im Jahr 2009, also vor 13 Jahren, wollte ich das Verhältnis zwischen dem Libanon und Syrien besser ergründen. Dazu muss ich ein wenig ausholen: Meine Mutter ist Syrerin, mein Vater Libanese, ich selbst wuchs in Beirut auf, bevor ich nach Kanada ging. Mein Leben lang bekam ich die Spannungen zwischen Syrern und Libanesen zu spüren. Obwohl es sich um zwei arabische Länder handelt, mögen sich die Menschen nicht. Das hat viel mit der Erfahrung des libanesischen Bürgerkriegs zu tun, in dem Syrien unter dem Vorwand auftrat, dem Libanon zu helfen, letztlich aber nur seinen Einfluss festigen wollte. Allerdings wollte ich keinen politischen Dokumentarfilm drehen. 2008 habe ich dann meine Eltern besucht und Maria kennengelernt.

Noura Kevorkian ist eine kanadische Filmemacherin mit armenischen, syrischen und libanesischen Wurzeln.
Foto: Six Island Production

STANDARD: Ihre Protagonistin – eine migrantische Arbeiterin aus Syrien, die seit Jahren bei einem libanesischen Landbesitzer namens Mousa ihr Geld verdient.

Kevorkian: Richtig, es ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft, die in einer schönen Landschaft beginnt. Die Verbindung einer syrischen, muslimischen Gemüsebäuerin und eines christlichen Landbesitzers – ich wusste, das ist ziemlich einzigartig. Ich dachte, der Film wäre in zwei Jahren fertig. Als dann die Unruhen in Syrien ausbrachen, entschied ich mich, zu bleiben und abzuwarten, wie sich die Revolution entwickelt. Daraus wurde der Bürgerkrieg. Ich hätte nie gedacht, dass daraus eine 13 Jahre lange Reise wird.

Standard: Was gab am Ende die Motivation dafür ab, so lange weiterzudrehen?

Kevorkian: Niemand war darauf vorbereitet, dass der Krieg so lange dauern würde und dass daraus diese immense Flüchtlingskrise erwachsen würde. Im Grunde war ich mit Maria mit der Zeit so eng verbunden, dass ich die Geschichte gar nicht mehr verfrüht abbrechen konnte. Ich war in gewisser Weise naiv, weil ich darauf gewartet habe, dass der Krieg endet. Das Happy End kam jedoch nicht. Dass Maria und ihre Familie zurück nach Raqqa in Syrien gingen, das konnte ich bis heute nicht filmen.

Standard: Die Verwandlung des Schauplatzes im Film ist enorm. Aus den prächtigen Gemüsefeldern erwächst mit der Zeit eine Flüchtlingsstadt.

Kevorkian: Mit dem Film kann man sich auf diesen Verwandlungsprozess einlassen, aber ich ziehe daraus keine Schlussfolgerung. Im Endeffekt war es nur möglich, den Film aufgrund der Pandemie zu beenden. Bis dahin bin ich jedes Jahr zwei bis drei Mal zurückgefahren, um wochenlang zu filmen. Als dann der Lockdown kam, wurde dies wie von selbst zum richtigen Zeitpunkt, um den Film fertigzustellen. Der Schnitt war eine sowohl emotional wie psychologisch äußert schwierige Phase für mich – ich musste mich in der Montage von Menschen trennen, die teilweise gar nicht mehr lebten.

Standard: Der Film erzählt indirekt auch davon, wie die Flüchtlingskrise den Libanon immer mehr belastet. Wie massiv hat der Krieg in Syrien die Spannungen der beiden Länder noch intensiviert?

Kevorkian: Im Osmanischen Reich wurde die ganze Region noch als Großsyrien bezeichnet. Erst 1943 wurde aus dem Libanon ein eigenes Land. Syrien wollte den Libanon jedoch immer zurückhaben. Das Sprengstoffattentat auf den libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri haben viele Menschen den Syrern zugeschrieben. Als dann nach dem Kriegsbeginn plötzlich so viele syrische Flüchtlinge in den Libanon kamen, haben dennoch viele Libanesen mit der syrischen Sache sympathisiert und bemitleideten die Menschen – sie kannten solche Situationen aus dem Bürgerkrieg selbst nur zu gut. Doch weder die Menschen noch die Regierung waren auf die ökonomischen Folgen für das Land vorbereitet. Eine vier Millionen zählende Bevölkerung stand mit einem Mal 1,5 Millionen Flüchtlingen gegenüber.

STANDARD: Übertragen auf die EU wären das 140 Millionen Flüchtlinge, heißt es einmal im Film ...

Kevorkian: Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet? In den ersten zwei Jahren haben viele Libanesen ihre Jobs verloren – die syrischen Arbeiter suchten verzweifelt nach Arbeit und haben um viel weniger Geld gearbeitet. Die Arbeitslosigkeit stieg rasant, dazu kam der Wohnungsmangel und wachsende Spannungen – ideale Bedingungen für Ressentiments und Hass. Dazu kam, dass der Libanon eine schreckliche Regierung hatte, die sich auf nichts einigen konnte und Geld veruntreut hat.

STANDARD: Dem setzen Sie nun im Film ein Beispiel gegenüber, das auf einer viel niederschwelligeren Ebene ansetzt. Eine Gegenpolitik??

Kevorkian: Ja, ich komme von der Politik quasi auf eine Ebene der Menschlichkeit zurück. In dem Verhältnis zwischen Marias Familie und Mousa lässt sich ein gemeinsames Begehren für Liebe und Freundschaft, für Stabilität entdecken. Diese Hoffnung steht im Zentrum meines Films.

STANDARD: Sie hatten nie den Eindruck, dass Marias dieses Verhältnis auch idealisiert? Schließlich ist Mousa der Profiteur ihrer Arbeitskraft.

Kevorkian: Stimmt schon, er ist immer noch der Landbesitzer. Doch im Unterschied zu anderen behandelte Mousas seine Arbeiterinnen und Arbeiter einzigartig. Sie teilen auch ähnliche Erfahrungen, was sie zusätzlich verbindet: Mousa hat einen armenischen Hintergrund – seine Eltern haben den armenischen Genozid überlebt und sind schon selbst als Flüchtlinge in diese Region des Libanon gekommen. Maria und die anderen Flüchtlinge teilen also bestimmte Geschichten aufgrund ihrer Herkunft.

STANDARD: Sie stellen eine alleinstehende Frau ins Zentrum des Films. Geschieht dies auch mit der Absicht, eine unterrepräsentierte Perspektive in Filmen über Flüchtende zu behandeln?

Kevorkian: Als Frau suche ich natürlich nach inspirierenden weiblichen Figuren. Maria ist charismatisch, und das Publikum verbindet sich schnell mit ihr. Als ich sie 2008 traf, wusste ich gleich, dass sie speziell ist. Das hätten auch andere Regisseure gesehen. Besonders im Nahen Osten sind Frauen meist nur die "Beifahrer". Ich bin selbst mit 17 Jahren nach Kanada gezogen, weil ich ein anderes Leben wollte. In Maria habe ich auch eine Kämpferin gesehen. Eine Kartoffelbäuerin im Hijab kann auch stark und durchsetzungskräftig sein – als liebende, helfende und unterstützende Hand ihrer Gemeinschaft.

STANDARD: Sie spricht dennoch oft von einem Schicksal, das über sie entscheidet. Fehlt es an politischer Bewusstseinsbildung?

Kevorkian: Ja, Sie sprechen von der Stelle, in der Marias Nichte heiratet. Maria vergleicht ihre Situation mit der von Menschen im Westen, wo es Demokratie und Gesetze gibt – bei ihr gibt es nichts davon. Das Einzige, woran sie glauben kann, ist das Schicksal. Alles ist ihrer Ansicht nach vorentschieden. Das repräsentiert sehr gut, wie die Menschen in dieser Region denken. Sie befinden sich in Situationen, in denen sie nichts mehr kontrollieren können. Sie haben keine Stimme, keine Chance, für ihre Rechte zu kämpfen. Sie können nur über ihr Dasein meditieren, damit sie irgendwie Ruhe finden. Deswegen glauben sie an das Schicksal und an Gott. Wir erzählen uns diese Geschichten, damit Hoffnung bleibt.

STANDARD: Mit dem Krieg in der Ukraine gibt es eine neue Flüchtlingswelle – gelten da andere Maßstäbe? Der Umgang mit Nicht-Ukrainern an der Grenze wurde fallweise als rassistisch kritisiert.

Kevorkian: Der Film war auf Festivals auch deswegen so erfolgreich, weil er mit dem Krieg in der Ukraine zusammenfiel. Die Flüchtlingskrise war damals schon etwas in Vergessenheit geraten. Die Bilder aus der Ukraine im März haben auch die Flüchtlingsgeschichten von anderen zurück in die Medien gebracht. Manchmal leiden wir an kollektiver Amnesie. Meine Aufgabe als Filmemacherin ist es, die Welt an solche Krisen zu erinnern – wir können nicht die eine Krise behandeln und dabei auf die andere vergessen. Wir sollten alle Krisen gleich wichtig nehmen. (Dominik Kamalzadeh, 25.8.2022)