Durs Grünbein, in Verteidigung dichterischer Redeweisen: "Wie es war, als die endlich Barbaren kamen..."

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Sicheres Anzeichen für das Hinwelken einer Kultur ist ihr bemächtigender Umgang mit Schrift. In Durs Grünbeines neuem Lyrikband Äquidistanz, seinem mittlerweile zwölften, ist es sogar der gefürchtete Widersacher Gottes, der am Wuchern der Papierberge entscheidenden Anteil hat. "Das war ein großer Tag für den Teufel, / als die Personenkennkarte aufkam ...", lautet der Auftakt des Gedichts Menschen, gestempelt. Aus dem Bestand der "verstörten Rehe" schöpften, wie es weiter heißt, nicht erst die Nazis das "künftige Freiwild der Bürokratie".

Die Geschichte des modernegemachten Unheils umfasst eine stetige Verkettung von Personenkenndaten. Sie führt entwicklungstechnisch von der Liste zur Zählkarte, zur Kontrollmarke, schließlich zu Formular und Melderegister. Gegenüber allen Vorschlägen der Dichterinnen und Denker macht die moderne Bürokratie ihren Anspruch auf "totale Erfassung" geltend: Sie füllt Menschen in Sortieranlagen und scheidet die von ihr für minderwertig erkannten als abzusondernde wieder aus.

Tatsächlich wirft der Autor auch Postkartenblicke auf das Dritte Reich: Zeugnisse einer Alltagskultur, die – prekär genug – auf die Unschuld der an ihr Beteiligten pocht. Er schildert dann in Strandbad Wannsee selbigen Ort als verkommenen Uferstreifen. "Sind das die Badefreuden der Toten?" Die einleitende Frage gilt den Jahren um 1940. Zwischen "Liegestühlen und Badetüchern" halten Strandkörbe, in Stellvertretung der verschleppten Menschen, "die Stellung". Irgendwo hinterm Blattgrün müssen die Villen versteckt liegen, die Tummelplätze der "Goldfasane, / Orte für manche Geheimkonferenz". Auf der Wannseekonferenz wurde 1942 bekanntlich die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden beschlossen.

Der letzte Vers in Grünbeins Menschen, gestempelt enthält somit das Eingeständnis eines Schrifttrunkenen, der klein beigibt: "Immer gingen Papiere dem Sterben voraus." So schließt der Einzeltext lapidar, mit einer Art Kapitulationserklärung.

Wider die Pegida-Leute

Wieder und wieder wurde an Grünbein – der bald 60-jährige Dresdner lebt heute abwechselnd in Berlin und Rom – in der Vergangenheit sein allzu kniefälliger Umgang mit den Schriftwerken der Alten bekrittelt. Man machte ihm seine Gelehrsamkeit regelrecht zum Vorwurf: sein "auf Du und Du" mit den Vorfahren im antiken Rom, mit Büchner, mit Benn. In Vergessenheit geriet darüber Grünbeins Engagement: seine beherzten Widerworte gegen Uwe Tellkamp, seine Ablehnung der Pegida-Bewegung.

Äquidistanz bildet jetzt eine Art poetischen Vielfältigkeitsparcours, das vorzeitige Fazit zum Stand der dichterischen Dinge. Sollte Grünbein, der notorische Alleskönner, tatsächlich jemals im Elfenbeinturm gehaust haben, so muss man sich dieses Quartier mittlerweile zwar als strukturierte, aber streng auf Funktionalität getrimmte Kammer vorstellen. Der lyrische Ton nähert sich vorzugsweise der Alltagssprache an. Grünbein dichtet zumeist daktylisch-erzählend. Er behauptet die Schrift des Poeten als stets wechselnden Transit-Ort: als jene "krumme Straße", auf der einst Walter Benjamin und Siegfried Kracauer zu ihren "klirrenden Höllenpassagen" fanden.

Entlang der Fluchtlinien von Wasserarmen, Promenaden, Kanälen und Chausseen wird in diesem prachtvollen Band in neun Abschnitten eine Art Hebewerk sichtbar, ein Austauschgeschehen zwischen Weimarer Vergangenheit und Berliner Gegenwart.

Aber Grünbein besingt mit derselben Gelassenheit auch Italien, die tyrrhenische Insel Ventotene. Selbst Bertolt Brechts Exilbäumchen wird gegrüßt: "Steht eine Birke im Hinterhof, erinnert daran / wie es war, als die Barbaren endlich kamen."

Unmöglicher Ort

Dieser "Poeta doctus" kann auf Zuruf auch Paul Celan. Vor allem legt er ein wohltönendes, niemals vollmundiges Bekenntnis zum lebenslänglichen Zwischen(auf)halt ab: "... mehr bei den Dingen als bei den Worten / zu sein oder zwischen den Worten / und den Dingen, in einem Niemandsland / zwischen den allzeit vibrierenden Gehirnen." Eben in Äquidistanz, in strikter Opposition gegenüber allen Besserwissern und Lückenfüllern. Distanzlos gesprochen: Dieses Buch ist ein Wurf. (Ronald Pohl, 26.8.2022)