"Sie sah die Wellen, konnte jedoch kein Rauschen hören, als wäre eine Wand zwischen ihr und der Welt." Tanja Raich fasst die Schönheit in Worte, um darauf aufmerksam zu machen, was wir verlieren könnten.

Foto: Regine Hendrich

Die gebürtige Südtirolerin Tanja Raich ist oft auf der Durchreise. So auch in diesem Sommer. Kurz vor Erscheinen ihres zweiten Romans mit dem Titel Schwerer als das Licht begegnen wir uns in der Wagner’schen Buchhandlung in Innsbruck.

Raich hat einige Bücher im Gepäck. Sie gestaltet das Literatur- und Kinderbuchprogramm des renommierten Leykam-Verlags, und viele Publikationen, die unter ihrer Ägide erscheinen, werden erfolgreich. So wurde etwa Faszination Krake von Michèle Ganser und Michael Stavarič mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2022 ausgezeichnet.

Begeisterung, das gehört zu Tanja Raichs Credo, und es ist unübersehbar: Sie liebt Bücher. Man erkennt es an der Art, wie sie ein Buch in den Händen hält, seine Ecken mit den Fingern abtastet, über das Papier streicht. Diese Gesten machen sie nahbar, sympathisch, sie begegnet ihrem Gegenüber mit Offenheit, mit wachen Augen.

Neue Gesellschaftsentwürfe

Tanja Raich spricht schnell, ansteckend aufgeregt, sie strahlt und lacht schelmisch, wenn sie auf ein raffiniertes gestalterisches Detail hinweist, das sie sich für ein Buch ausgedacht hat. Autorinnen und Autoren sind bei ihr in sicheren Händen, sie setzt sich höchstpersönlich für ihre Bücher ein. Mit jedem Wort, das sie spricht, schlägt sie eine Schneise in den unübersichtlichen Bücherdschungel, um damit den Neuerscheinungen ihres Verlages Platz zu verschaffen.

Tanja Raich, 1986 in Meran geboren, ist eine meinungsstarke Persönlichkeit. Sie scheut sich nicht, gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Erst vor kurzem trat sie als Herausgeberin des Werkes Das Paradies ist weiblich (Kein & Aber) an die Öffentlichkeit, das antipatriarchale Gesellschaftsformen verhandelt. Ihre Forderung: "Wir müssen uns endlich mit anderen, neuen Gesellschaftsentwürfen beschäftigen."

Gegen verkrustete Strukturen

Raich ist im katholischen Südtirol aufgewachsen. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass sich eine Intellektuelle gegen verkrustete Strukturen auflehnt, die Frauen eine berufliche Entwicklung erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Genau diese verhängnisvollen Lebensumstände thematisierte Raich, die seit einigen Jahren in Wien lebt, bereits in ihrem mehrfach ausgezeichneten Debütroman Jesolo, der 2019 erschien.

Darin zeigt sie auf, was eine Schwangerschaft im Leben einer Frau verändern kann, wie klein der persönliche Freiraum plötzlich wird, wenn sich ein exorbitanter Kredit, ein Kind und eine Heirat plötzlich in die Lebensgleichung schieben.

Es erfordert Mut, als Frau so etwas Heiliges wie die Mutterschaft für sich abzulehnen und anerkannte Gesellschaftsformen öffentlich anzuzweifeln. Tanja Raich hat diese Kraft, diesen Mut, und sie beweist mit dieser Haltung, dass sie neben ihrer Vermittlerrolle im Literaturbetrieb auch eine rebellische Seite besitzt, eine, die gegen das Heteronormative aufbegehrt.

Auf den ersten Blick versprüht die Wahlwienerin Charme und Diplomatie, sie trägt ihre Haare feminin lang, beim zweiten Hinsehen ist an der Seite ihres Kopfes allerdings ein Undercut zu erkennen. Womöglich nicht nur ein modisches, sondern auch ein rebellisches Statement?

Doppelrollen

Es ist bemerkenswert, wie es Tanja Raich gelingt, zwei anspruchsvolle Berufe in einem Leben zu vereinen: das Verlegen und das Schreiben von Büchern. Diese Doppelrolle ist zweifellos mit zeitlichen Herausforderungen verbunden, und um sich ihrem soeben erschienenen zweiten Roman Schwerer als das Licht gebührend widmen zu können, verbrachte Raich einen Schreibaufenthalt in der One World Foundation auf Sri Lanka.

Anders als in ihrem Debütroman wendet sich Tanja Raich in ihrem neuen Roman nicht familiären Beziehungsverhältnissen zu. Sie richtet ihren literarischen Blick auf ein globaleres Thema, das bei allen Menschen Unbehagen auslöst – den Klimawandel. Diesem Schrecken auf die Spur zu kommen, das ist Raichs literarisches Programm.

Der drohende Untergang der Welt

Schonungslos beschreibt sie die brachiale Verzweiflung einer namenlosen Frau, die wie eine Schiffbrüchige vom Meer auf eine einsame Insel ausgespuckt wird. Verletzt und erschöpft findet sie Reste einer Zivilisation, ein verlassenes Haus, in dem sie ein labyrinthartiges Verteidigungssystem gegen mögliche Eindringlinge baut. Sie schlägt sich durch den Dschungel, begegnet merkwürdigen Figuren, Göttern und Geistern, die wieder verschwinden, fängt Schlangen und schultert tote Muränen.

Sie streift durch diesen Dschungel ohne die Aussicht auf Rettung. Im Gegenteil: Der Wald beginnt zu verkümmern, die Blätter verdorren, das Obst fault. Lesende werden Zeuginnen des unausweichlichen Verderbens: "Die Dunkelheit legt sich allmählich über die Insel. Ein dunkler Schatten, der alles verschluckt (…) der Schatten war immer schon schwerer als Licht."

Gestrandet zu sein auf einer Insel ist kein neues literarisches Thema, aber Tanja Raich findet für diesen existenzbedrohenden Zustand eine eigenständige Sprache, und sie setzt noch etwas obendrauf. Während des Überlebenskampfes in einer wilden Natur erzählt sie auch noch vom drohenden Untergang der Welt. Das Umherirren ihrer weiblichen Hauptfigur in einer sterbenden Umgebung entwickelt damit einen Sog und einen unverwechselbar düsteren Sound, der noch Tage nach der Lektüre nachdenklich stimmt.

Mechanismen des Traumes

Raich verschafft sich außerdem literarischen Freiraum, indem sie sich den Mechanismen des Traumes, seiner fantastischen Möglichkeiten der Verschiebung und der Verdichtung bedient. "Im Traum laufe ich über die schäumende Gischt, über Baumkronen, mir sind keine Grenzen gesetzt." Der offene Erzählstil erzeugt eine intendierte Ungewissheit, so heißt es etwa: "Keine Geschichte ist endgültig, sie verändert sich mit der Zeit und dem Blick." Der Lesende wird gezwungen, sein Denken ständig zu hinterfragen. Ist die Frau selbst ein einsamer Geist, der ruhelos durch die Wälder irrt? Ist sie ein Opfer, eine Täterin oder beides?

Tanja Raich, "Schwerer als das Licht". 22,70 Euro / 192 Seiten.
Blessing, München 2022
Cover: Blessing Verlag

Szenen überlagern sich wie im Traum, es gibt keine Fakten, Kapitel, die in der dritten Person erzählt werden, wechseln sich ab mit den Schilderungen einer Ich-Erzählerin, deren Wahrnehmung aber vielleicht nicht zu trauen ist. Versteckt hier Tanja Raich ihre gesellschaftspolitische Forderung, dass nichts festgelegt sein soll und alles hinterfragt werden darf?

Die prächtige Fauna und Flora Sri Lankas findet Einzug in diesen starken, wenn auch traurigen Roman. In gelungenen Passagen verneigt sich Tanja Raich vor der Einzigartigkeit der Natur, bevor sie zu sterben beginnt. Es regnet Nagas- und Hibiskusblüten, am liebsten möchte man in diesem literarischen Blütenmeer zu tanzen beginnen. Raich fasst diese Schönheit in Worte, um darauf aufmerksam zu machen, was wir verlieren könnten.

Ängste

Hier lässt sich eine philosophische Kernbotschaft dieses Romans herauslösen: Ist es nicht so, dass wir Menschen unsere Fehler in der größten Angst vor einem lechzenden Abgrund am allerbesten erkennen? Existenzielle Fragen zu verhandeln war in der Geschichte der Literatur bis auf wenige Ausnahmen Männersache. Raichs Roman steht wie viele andere Texte der Gegenwartsliteratur für das neue Selbstverständnis von Schriftstellerinnen.

Wie sehr Raich auch von weiblichen Schriftstellerinnen geprägt wurde, zeigt sich an einem Verweis auf den Roman von Marlen Haushofer Die Wand. Raich schildert eine Empfindung ihrer weiblichen Hauptfigur so: "Sie sah die Wellen, konnte jedoch kein Rauschen hören, als wäre eine Wand zwischen ihr und der Welt."

Tanja Raich hat sich mit dem Klimawandel an ein großes Thema herangewagt und einen Roman geschrieben, der nachhaltige Erschütterung erzeugt. In einem Interview sagte sie einmal, dass sie über Glück nicht schreiben könne. Den Untergang jedenfalls inszeniert sie meisterhaft, auch wenn man sich bis zum letzten Satz wünscht, dass er doch nicht eintreten möge. (Gerlinde Tamerl, ALBUM, 27.8.2022)