Das Aufsperren des Giraffenschlundes – erzwungen durch die Notwendigkeit, das obere Ende des langgestreckten Halses zu gewinnen, um durch ihn hindurch, unter Zuhilfenahme des Blätter kauenden Mauls, Heilmittel verabreichen zu können – erforderte die behutsame Niederlegung des allseits beliebten Zoobewohners.

Gesundheitliche Misslichkeiten: Der "Pflegling" in Ronald Pohls Erzählung
ist eine Giraffe.
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Den Pflegern erwuchs daraus die Pflicht, die Wirkstoffe am natürlichen Ort der Einverleibung anzubringen, an der Ein- wie Austrittsstelle des Speisebreis. Erst durch die Hinzuziehung eines mit solchen Fällen wiederholt befasst gewesenen Mediziners, der Giraffen auf der freien Wildbahn begegnet und, in beiderseitiger Wertschätzung der so ungleichen Verkehrspartner, freundschaftlich mit ihnen verbunden geblieben war, wurde eine Umwälzung des ursprünglich nach bestem Wissen geschmiedeten Planes vorgenommen.

Niederlegung

Um dem sacht geneigten Halsrohr des sanften Riesen auch wirklich beikommen zu können, war den Pflegern an einer Niederlegung des sich in Höhe der Beine ganz unscheinbar klein ausnehmenden Tierkörpers gelegen gewesen – ohne dabei eine der langen, mittlings einknickenden Stelzen nachhaltig versehren zu müssen.

Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, das in den Schlaf gewiegte oder anderweitig mit der Eintrübung seines Wachbewusstseins beschenkte Tier zur allmählichen Preisgabe der Herrschaft über seine Gliedmaßen so sanft wie andererseits nachdrücklich zu bewegen – und zwar dergestalt, dass jener Körperseite, nach welcher es gewohnheitsmäßig den schwerer werdenden, womöglich von wirren Träumen eingenommenen Kopf hinzuneigen pflegte, eine künstliche, mit menschlicher Kraft errichtete Stütze zuteilwürde, sodass es, von ihm selbst völlig unbemerkt, seitlich abrutschend mit der Horizontallage des Bodens die allerliebenswürdigste Bekanntschaft schlösse – immer eingedenk der Tatsache, dass eine Giraffe einzig durch den Zwischenhalt ihrer Hufe mit dem Boden jene Vermählung feiert, die anderen, nicht weniger stolzen Lebewesen die Mühsal des Hinlegens und befreienden Gliederstreckens auferlegt.

Diese hätte die Giraffe aber einer widernatürlichen Zumutung ausgesetzt – umso mehr, als die hastige Begegnung mit dem aufwirbelnden Staub der Savanne schlechtesten Falles das nahende Ende des zu Tode gestrauchelten Blätterkäuers anzeigt, dessen mahlende Laden sonst nur mit Störchen und tief ziehenden Wolken Bekanntschaft schließen – zu schweigen von den überreif vergorenen Früchten in den schütteren Baumkronen, deren unbedenklicher Genuss die Erschütterung der Gliedmaßen unweigerlich nach sich zieht – sodass ein haltloses Torkeln den vordem so gebändigten Zusammenklang der aufeinander bezogenen Bewegungen in freier Nachäffung der Natur durcheinanderwirft.

Hustenkrämpfe

Die zum Behuf der Niederlegung behutsam aufzurichtende Mauer wäre lediglich aus solchen Backsteinen aufzuführen gewesen, welche der Fellnarbe keinen Schaden zufügten – insonderheit jenen durchwegs schütter gewordenen Stellen, welche durch natürlichen Abrieb an den knorrigen Dattelpalmen und Platanen zustande gekommen waren – was insofern nicht der Wahrheit entsprochen hätte, als das Baumvorkommen in dem gegen die Welt hin abgeschlossenen Tierpark sich nach dem Vegetationsangebot der nördlichen Hemisphäre richtete – oder doch Rindenstücke bereitstellte, deren vollsaftigsten es nicht weniger auf das Gewirk des Fells abgesehen hatten als die um so viel trockeneren südlichen.

An eine Aufführung der Mauer war zudem einzig in der Hut der finstersten Nacht zu denken gewesen – um der über ihr Leid und ihre Beschwerden endlich eingenickten Giraffe jegliche Aufregung, welche mit der ehrgeizigen Unternehmung verbunden, auf der Höhe ihrer Sorgfalt zu ersparen.

Geheimnisvolle Unruhe

Und wirklich schien sich eine geheimnisvolle Unruhe des Tieres bemächtigt zu haben, als es die vier Stelen seiner Beine trotzig auseinanderstemmte, wohl wie sich ein Haustier gegen seine gewaltsame Verbringung an einen ungeliebten Ort sperrt. Es waren Hustenkrämpfe gewesen, welche die Pfleger überhaupt erst an eine ernstliche Erkrankung der schutzbefohlenen Giraffe hatten denken lassen – den Kopf in den je wechselnden Wolkenflausch getaucht, war eine Erschütterung durch das Kobaltblau des Himmels gegangen, und die dünnen Beine des Tiers erzitterten unter der Wirkung des misslichen Krampfes wie die Tempelsäulen der Philister.

Und gelegentlich des Keckerns und Bellens war ein Rieseln durch die Gliedmaßen gelaufen – so als recke sich ein in Gebirgsknöchelchen zerteilter Berg, dem durch unterirdische Beben eine weitere Auseinanderfaltung zuteilwürde, deren vielfache Erstreckung die staubige Ebene mit neuen, noch erdwärmeren Schottern bedeckt – ein Geprassel und Gehagel losschütternd, unter welchem die Grasnarbe wie unter Hagelkörnern versinkt.

Und wirklich behauptete der Arzt, Giraffen wie die in Rede stehende beim Von-sich-Strecken der jählings erschlafften Gliedmaßen wie bei einer Naturwidrigkeit unverhofft betreten zu haben. Andere sagten, das in seine Unzugänglichkeit wie in Bernstein eingeschlossene Tier hätte unter der Wirkung einer ihnen nicht näher bekannten gesundheitlichen Misslichkeit eine auf Verstimmung hindeutende Farbe angenommen – sei es, dass die dem Fell zugrunde liegende Haut in den gedeckten Tönen des Auswurfs schillerte, sei es, dass der Fellmantel von der erblassten Haut abzustechen begann – wie manch einer vom Schicksal Gebeutelte über Nacht zum ehrwürdigen Greis ergraut, den kein Strich der Bürste über das erlittene Ungemach hinwegsetzt.

Heilkunst

Ronald Pohl, "Der Vaghals Drei Erzählungen". 19,– Euro / 14 Seiten. Ritter, Klagenfurt 2022 (Das Buch
erscheint im September.)
Cover: Ritter Literatur

Die hoheitsvolle Miene des Tiers hätte eher an die Duldsamkeit königlichen Geblüts denken lassen – insonderheit das bereits gewürdigte Mahlen der Backen, welches an den formvollendeten Verzehr kleinster gereichter Happen erinnerte. Sogar das Vornüberneigen des mit Haarröllchen geschmückten Kopfes mochte die besorgt dreinblickenden Pfleger herrscherlich bedünken – auch wenn sich die Giraffe in ihren Zuckungen kaum nennenswert von einem Hahn am Mist unterschied, der von der Höhe seines jauchebraunen Anwesens herab mit einsilbigem Stolz die Masse der Favoritinnen taxiert.

Und endlich benahmen sich auch die Pfleger zuweilen hochfahrend und voller Anmaßung – insbesondere wenn sie gewöhnliche Tierärzte und Kurpfuscher von dem sanft scheuenden Tier abwehrten, das eher zugrunde zu gehen wünschte, als sich den Zumutungen einer mehr durch besorgten Fleiß denn durch echte Kennerschaft geprägten Heilkunst auszusetzen.

Und wirklich wäre eine Leere rund um den Pflegling entstanden: Statt unzähliger Helfer fand man ein paar Fütterungsagenten in seiner Nähe, die dem Tier alle Misshelligkeiten mit der Verabreichung einiger ausgesuchter Leckerbissen zu entgelten trachteten. Aber vielleicht wäre die so hoheitsvoll dreinblickende Giraffe – so nicht ein infernalischer Hustenreiz ihren ohnedies bis zur Lächerlichkeit lang gestreckten Hals erschütterte – von Myriaden von Fliegen umschwärmt gewesen – als hätte ein unumkehrbarer Niedergang von ihr Besitz ergriffen, der sich durch das zuerst unmerkliche Ausströmen von Fäulnisstoffen atmosphärisch ankündigte, ehe sich der unerfreulichen Geruchsentwicklung jene Flecken hinzugesellten, die tintigen Verfinsterungen gleichen, die das unruhige Ziehen der Wolken auf der Grasnarbe hinterlässt.

Das Schwirren der Mücken, als begutachteten sie die vor Süße starrende Fäulnis tennisballgroßer Aprikosen, während die Augen des geschundenen Tieres wie nachgedunkelte Blechkartuschen glänzten, nur dass sie statt Gravüren das milchige Abbild ihrer Peiniger auf der Hornhaut ausgestellt trugen. Ein Zittern durchfurchte in schöner Regelmäßigkeit das fleischige Nüsternpaar, worauf dieses aufzuspringen schien wie in Gärung befindliche Innereien in der Schale des Präparators. (Ronald Pohl, Vorabdruck, ALBUM, 27.8.2022)