Die Mission lautet "Liter, Liter!" und "Zam, zam, zam!".

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Nach erfolgreich geschlagenen Schlachten wurde es im römischen Imperium zur guten Sitte, die jeweiligen Kaiser und Feldherren mit Triumphbögen zu ehren. So sind beeindruckende Bauwerke entstanden. Abseits von Glorifizierung waren diese Bogenkonstruktionen zwar von überschaubarem Nutzen, aber architektonischen Machtdemonstrationen wohnt selten ein tieferer Sinn inne. Das Imperium Romanum ging zwar unter, Triumphbögen wurden aber trotzdem bis weit in die Neuzeit hinein errichtet.

Im Wiener Bezirk Döbling – oder genauer im Döblinger Bezirksteil Neustift am Walde – steht auch so eine Art Triumphbogen. Er reicht von einer Seite der Rathstraße zur anderen und ist gut vier Meter hoch. Anders als der Arco di Tito in Rom oder der Arc de Triomphe auf den Pariser Champs-Élysées ist er aber knallrot, aufblasbar, und gleich mehrmals prangt in riesigen Lettern der Schriftzug der Kräuterlimonade Almdudler darauf. Der mit ordentlich Druckluft gefüllte Schlauch markiert Anfang und Ende des Neustifter Kirtags. Er ist wahrlich schwer zu übersehen und eignet sich so perfekt als Treffpunkt.

Spielzeugkiste Popkultur

Mit Peter Waldeck zum Beispiel. Der 52-Jährige hat gerade seinen dritten Roman fertiggestellt. Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag heißt das Buch, der Titel könnte aber genau so gut "Fear and Loathing in Neustift am Walde" lauten. Die Assoziation ist nicht ganz ungewollt, Waldeck liebt die große Spielzeugkiste Popkultur mit ihren Versatzstücken und Textbausteinen.

Darin ist er geübt – etwa als Autor für seine Theatergruppe Casa Del Kung Fu, die im Grenzgebiet zwischen Literatur, Wrestling und Comic zu Hause ist. Viel Lorbeer gab es auch für sein Theaterstück Columbo Dreams, eine Produktion für den Wiener Rabenhof, in der er sich hochkomisch an Peter Falks Inspektorfigur abgearbeitet hat. Das heißt: Es wird wohl schräg und lustig, wenn sich Waldeck nun literarisch ans Kirtagstreiben anpirscht.

Links die Musik, rechts die Politik: Bundesministerin Edtstadler, Döblinger Bezirksvorsteher Resch (beide ÖVP) und Vizebürgermeister Wiederkehr (Neos) im Trommelwirbel.
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Temporeich und comichaft

Im Zentrum seines Romans steht das Ehepaar Thomas und Sylvia mit seinen drei Kindern Lisa, Michael und Willi. Bonny, der Familienhund, ist ausgebüxt und muss gefunden werden. Bis auf den zwölfjährigen Willi, einen präpubertären Choleriker, spürt allerdings niemand die Dringlichkeit, den Köter, "ein strubbeliges Etwas" mit "herzigem Blick" und einer "dahinter lauernder Dummheit", zu suchen.

Mutter Sylvia nicht, denn "drei Kinder waren schon die Hölle, der Hund das Tüpfelchen auf dem i". Vater Thomas nicht, der es wichtiger findet, sich am Neustifter Kirtag mit "Parteifreunden" zu vernetzen, und auch die älteren Geschwister haben eine eigene Agenda. Lisa will ihre DJ- und Musikerinnenkarriere vorantreiben – blöd nur, dass all ihre Platten gestohlen wurden. Und Michael, am besten Wege zum Spiegeltrinker, kämpft vorwiegend gegen sich, seine Geilheit und den Rest der Welt.

Diese Familie flankiert Waldeck mit einem ganzen Arsenal an Figuren, und so werden weit über 30 Personen an diesem Kirtagnachmittag in eine temporeiche, fast schon comichaft arrangierte Geschichte eingewoben. Kreuzt dabei wer (unglücklicherweise) den Weg des ebenso dumm-dreisten wie brutalen Nazi-Skinhead-Duos Gabor und Alex, wird’s schauderhaft.

Dann gibt es selbst für eingesessene Neustift-Prominenz wie Michael Heltau eine auf den Deckel. Und der Schauspieler kommt noch glimpflich davon. Einen ÖVP-Parteikassier erwischen die zwei Neonazis besonders hart. Er wird derart ins Koma geprügelt, dass er sich nach dem Aufwachen für Bruno Kreisky hält. Das alles spielt sich übrigens an einem Samstagnachmittag, dem 17. August im Jahr 1985, ab.

Trachtenfasching

Am 19. August, einem Freitagnachmittag im Jahr 2022, ist Peter Waldeck das erste Mal seit 37 Jahren wieder am Neustifter Kirtag. Er kennt die Gegend in- und auswendig. Er ist hier aufgewachsen. Fragt man Waldeck, wo genau, deutet er mit grobgeografischer Geste hangauf- und stadtauswärts: "Da oben, hinten, drüben." Naheliegend wäre es nun auch zu fragen, wie es denn zu dieser fast vier Jahrzehnte währenden Kirtagabsenz gekommen ist.

Allerdings erübrigt sich so manche Frage, wird man Zeuge, wenn nur wenige Meter von einem entfernt Richard Lugner seine Entourage in Stellung bringt. Der Neustifter Kirtag ist zu einem der größten Events in Wien avanciert, 100.000 Menschen besuchen ihn mittlerweile an vier Tagen.

Der Neustifter Kirtag ist zu einem der größten Events in Wien avanciert.
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Da das Wetter mitspielt, ist bereits vor der offiziellen Eröffnung einiges auf der Straße, vor und in den Heurigen los. Burschen und Männer haben sich in Lederhosen geworfen, die nicht selten mit Ralph-Lauren-Hemden kombiniert werden. Mädchen und Frauen haben sich in ihre Zalando-Dirndl geworfen, die nicht selten an entscheidenden Stellen großflächige Tattoos offenlegen. Wer keine Tätowierung hat, braucht aber auch nicht lange traurig sein.

"Mein Vater hat mir Geld fürs Taxi gegeben", sagt ein Lederhosen-Teenager zu seiner Dirndl-Teenager-Begleitung. Wenige Meter später spendiert ihr der junge Galan an einem einschlägigen Marktstand ein Airbrush-Tattoo. Er nestelt dafür umständlich einen 20-Euro-Schein aus der aufgenähten Seitentasche, wo in einem echten Lederhosenleben ein Hirschfänger stecken müsste.

Hier oben am Stadtrand von Wien kommt einiges zusammen, und nicht immer ist es das Beste aus allen Welten. "Es wirkt auf mich alles wie ein riesengroßes Trachten-Cosplay", kommentiert Peter Waldeck dieses merkwürdig karnevaleske Treiben.

Richard Lugner und Entourage dürfen nicht fehlen.
Foto: Heribert Corn

Das war früher nicht so. "In den 1980er-Jahren gab es lediglich ein paar Marktstände, ein heruntergewirtschaftetes Karussell und kaum Gäste", erinnert sich Waldeck. An guten Kirtagwochenenden waren es zwischen 3000 und 5000 Gäste steht in Archiven geschrieben. "Ich dachte lange Zeit sogar, dass die Veranstaltung in manchen Jahren auch ausgesetzt wurde. Wegen Trost- und Erfolglosigkeit", so Waldeck.

Aber die Erinnerung ist ein falscher Hund. Tatsächlich fand der Neustifter Brauchtums- und Traditionstrubel in den letzten Jahrzehnten immer statt. Pausiert wurde nur 2020 und im Vorjahr – warum auch immer. Ansonsten gab es stets die Festumzüge mit der "Hauerkrone", den "Flaschlbuam" (seit kurzem auch mit "Flaschlmädchen"), den "Hiatern" (seit heuer auch "Hiaterinnen"), mit Blaskapelle, mit Aufstellen des "Hiatabaums", aber auch einer sonntäglichen Feldmesse.

Absoluter Wirtschaftsstandort

Seinen Ursprung hat das alles übrigens im Jahr 1752. Damals wurden die Weinhauer der Gegend bei Kaiserin Maria Theresia mit der Bitte um Steuererlass vorstellig, denn verheerend geriet in diesem Jahr die Weinlese. Die Kaiserin zeigte sich gnädig, und als kleines Dankeschön schenkte man ihr eine "Hauerkrone", verziert mit silbernen und goldenen Walnüssen, Blumen und Bändern. Diese Krone schenkte die Kaiserin den Neustiftern mit der Auflage zurück, ab nun jährlich einen Kirtag abzuhalten. So ging Wirtschaftsstandortsicherung im aufgeklärten Absolutismus.

Jahrhunderte später musste man ein bisschen tiefer in die Trickkiste greifen, um den Wirtschaftsstandort Neustift am Walde zu stärken. Die Kirtagsorganisatoren, zusammengeschlossen im Weinbauverein Neustift am Walde-Salmannsdorf, verlagerten ab den späten 1980er-Jahren das Heurigen- und Kirtagsgeschehen vermehrt auf die Straßen, sperrten diese ab, forderten Besucherinnen und Besucher auf, in Tracht zu kommen, und kümmerte sich um Sponsoren.

Die Zahlen gingen langsam in die Höhe. Und in den 2000er-Jahren ging es dann richtig ab. Aus Gründen, die Kulturanthropologen dereinst noch genauer erforschen werden, schlüpften in diesen verwirrenden Zeiten plötzlich auch urbane Menschen in trachtenähnliche Kostüme, die auf archaische Art primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale in Szene setzen. Seit zwei Jahren gelten der Umzug der "Hauerkrone" und das "Hiatabaumaufstellen" während des Neustifter Kirtags jedenfalls als immaterielles Unesco- Kulturerbe.

Weniger schützenswert ist der Unesco das Saufkulturerbe. Dabei bietet auch das eine nicht uninteressante Palette an traditionellen Begleiterscheinungen wie lauter Musik, grölenden Menschen, Kreislaufkollaps, Raufereien, Vandalismus, Alkoholvergiftung. Auch der Neustifter Kirtag hat in dieser Hinsicht einen Ruf zu verteidigen.

Seit zwei Jahren gelten der Umzug der "Hauerkrone" und das "Hiatabaumaufstellen" während des Neustifter Kirtags als immaterielles Unesco- Kulturerbe.
Foto: Heribert Corn

48 Sanitäter und Sanitäterinnen der Johanniter sind täglich im Einsatz. Sie haben ein Zelt für Behandlungen im Hof der Neustifter Kirche aufgestellt, die dem Heiligen Rochus geweiht ist. Er gilt als Patron der Siechenhäuser und wird angerufen, wenn die Pest ausbricht.

Ob auch Anrainer und Anrainerinnen das eine oder andere Stoßgebet in Richtung Rochus schicken, damit die Kirtagspest glimpflich vorüberziehe? Wer kann, rettet sich jedenfalls selbst. "Man hört immer wieder von Neustiftern, die ihren Urlaub so planen, dass sie am Kirtagswochenende weit weg sind", erzählt Waldeck.

Alkoholvergiftungen und Schnittverletzungen

Dafür sind die Einsatzkräfte der Johanniter nah dran. Wenn der Kirtag am Montag vorbei ist, werden sie insgesamt 72 Personen versorgt und 23 hospitalisiert haben. Häufigster Behandlungsgrund: Alkoholvergiftung, gefolgt von Schnittverletzungen. Die Polizei ist übrigens auch sehr präsent. 24 Polizisten und Polizistinnen sind permanent anwesend, bei Bedarf wurden auch weitere Kräfte aus dem Streifendienst hinzugezogen.

Freitag- und Samstagabend ist der Bedarf groß. 18 Anzeigen gerichtlich strafbarer Handlungen wurden heuer verzeichnet. Es wurden vorwiegend Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Raufhandel angezeigt. Dazu kommen 52 verwaltungsrechtliche Delikte wie verkehrsrechtliche Übertretungen, Lärmerregungen und Ordnungsstörungen. Es ging schon einmal wilder zu.

"Es wirkt auf mich alles wie ein riesengroßes Trachten-Cosplay." – Peter Waldeck
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Laut feiern und kräftig über den Durst trinken hat jedenfalls Tradition in Neustift am Walde. Peter Waldeck zieht dafür einen kleinen Beleg aus der Tasche. Oder besser: Er zückt sein Smartphone, auf dem sich dieser Beleg befindet. Es ist ein Zeitungsartikel vom 29. August 1948. Johannes Mario Simmel rechnet in der Tageszeitung Neues Österreich mit dem ersten Neustifter Kirtag nach Kriegsende ab.

Er schreibt: "Einem durchschnittlichen, unauffälligen Bürger wird in der Öffentlichkeit nicht schlecht. (…) Er streichelt auch nicht einen Bernhardiner mit den Worten ‚Ist das ein lieber Wauwau!‘, wenn der Bernhardiner gar kein lieber Wauwau, sondern ein Puch 250 mit Beiwagen ist." Und weiter: "Ein durchschnittlicher, unauffälliger Bürger beispielsweise wackelt nicht. (…) Und er sagt auch einem provisorischen Sicherheitswachebeamten nicht, daß er sich hutschen soll. Auf keinen Fall."

Neongelbe Muskelberge

Provisorische Sicherheitswachebeamte gibt es übrigens auch in der Kirtagsgegenwart. Sie tragen gelbe Westen mit der Rückenaufschrift "Ordnerdienst Weinbauverein Neustift am Walde-Salmannsdorf" und stehen als leicht ungeordneter Haufen unterm aufgeblasenen Almdudler-Torbogen. Es sind ziemliche Kanister darunter.

Beobachtet man sie länger, ohne dabei etwas zu sagen, werden sie ein bisschen unruhig, und es beschleicht einen das Gefühl, als verstünden diese neongelben Muskelberge nicht nur etwas vom Deeskalationsgeschäft, sondern kennen auch die Kehrseite der Medaille. Besser, sich gut mit dieser Weinhauerwehr stellen, sonst landet man vielleicht schneller im Partyzelt der Johanniter, als man Heiliger Rochus sagen kann.

Als Dominik Nepp, der Wiener Landesparteiobmann der FPÖ, durch den Almdudler-Bogen marschiert, grüßt er jedenfalls den neongelbsten und gebirgigsten dieser Ordner mit einem aufmunternd amikalen "Dere, ois fit!?". Nepp weiß, wie’s in Döbling läuft. Er kommt von hier. Er trägt übrigens ein kleinkariertes Hemd zu seiner Lederhose und blitzblaue Stutzen, die in Converse stecken. Der Schnaps, der die Bilder, die dieses höchst verstörende Spiel mit Codes und Zeichen erzeugte, von der Netzhaut zu ätzen vermag, muss aber erst noch gebrannt werden.

Offiziell ist der Neustifter Kirtag keine politische Veranstaltung. Es geht aber alles andere als unpolitisch zu. Bis auf die Grünen haben alle Parteien vor dem Eingang zum Volksfest Werbestandln aufgebaut. Und: "In den letzten Jahren hieß es immer wieder, die FPÖ habe den Kirtag gekapert", erzählt Waldeck. Vor allem Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus kämpften an vorderster Kirtagsfront und buhlten um junge Trachtengeher. Seit Ibiza hat sich das aber erledigt.

Service für Letztwähler

Damals wie heute ist es dennoch nicht unbedingt ratsam, der Spur der blauen Aushängeschilder zu folgen. Man landet zwangsläufig beim Heurigen Eischer, wo im Hinterzimmer Dominik Nepp gediegen Hof hält, es aber vorn, im Raum rund um den Buffetbereich, weniger gediegen zugeht, wenn alte FPÖ-Basis-Recken gratis verköstigt werden. Eine Art Letztwählerservice, das bei weniger hart Besaiteten Unwohlsein triggern könnte.

Peter Waldeck, "Spaß und Schulden am Neustifter Kirtag". 24,– Euro / 259 Seiten. Milena-Verlag, Wien 2022
Cover: Milena Verlag

Überhaupt scheint es, als haben die Parteien am Eröffnungstag die Heurigen unter sich aufgeteilt. Hier die Schwarzen, dort die Blauen, da die Pinken. Trotzdem: Da das türkise Projekt, das sich in den letzten Jahren intensiv um eine Rückeroberung dieses traditionell schwarzen Hoheitsgebiets bemüht hat, auf der Kippe steht, ist am Kirtag irgendwie ein Machtvakuum zu spüren.

An Politprominenz mangelt es zwar trotzdem nicht, die allererste Riege tanzt aber nicht zum Volksfest an. Die Regierung schickte Karoline Edtstadler zur Eröffnung, der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig eine Vertretung. Dafür ist der Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr zugegen, der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer. Und einiges an Döblinger Lokalpolitikern, die immer wieder betonen, wie stolz sie auf Kirtag und Wirtschaftsstandortsicherung sind.

Kann man auch: Denn bummvoll sind die Heurigen, bummvoll die Straßen und bummvoll die Leute, die um Mitternacht langsam nach Hause geschickt werden. Dann wird aus dem knallroten Almdudler-Triumphbogen, der den Anfang und das Ende des Neustifter Kirtags markiert, die Luft ausgelassen. (Manfred Gram, ALBUM, 26.8.2022)