Der Hauptplatz von Drosendorf

Foto: Franz Krestan

Von der Terrasse der Frühstückspension des Ernst Christian Pollak hat man einen herrlichen Ausblick auf Raabs an der Thaya und vor allem auf das gewaltige Renaissanceschloss, das auf einem Felsen über der Stadt thront. Herr Pollak hat sich nach 40 Jahren Berufsleben in Wien auf das Familienanwesen in Raabs zurückgezogen. Lange hat er das Nichtstun aber nicht ausgehalten und sich als "Jungunternehmer" mit seiner Frau betätigt. Er freut sich, dass der "sanfte Tourismus blüht". Aber als Bürger beschäftigt ihn die Frage, "wie es mit dem kleinstädtischen Wirtschaftsstandort weitergeht".

Zwölf Kilometer weiter östlich, ebenfalls hoch über der Thaya, liegt Drosendorf, ein Ort mit prachtvoll renovierten Häusern, teilweise aus der Renaissance, und einem Schloss, das jetzt wieder Gastronomie anbieten soll. Ein Idyll. Franz Krestan, Ex-Bürgermeister von Drosendorf, sagt dazu trocken: "Idylle ist nicht alles, aber wir haben ja sonst nix."

Ist das so? Industrie gibt es im nördlichen Waldviertel, vor allem im Thayatal, wenig bis keine. Land- und Forstwirtschaft, das ist es in der Hauptsache. Letztere ist durch Trockenheit, Borkenkäfer und Fichtenmonokulturen besonders betroffen, aber auch da gibt es Initiativen, einen "neuen Wald" auszubringen, mit mehr Laubanteil. Das ist aber eine eigene Geschichte.

Die offizielle Website rm-waldviertel.at: "Wachsende Beschäftigungszahlen verzeichnet der breit gefächerte Dienstleistungssektor mit Schwerpunktsetzung auf sanften Tourismus. Die Ambitionen der Verantwortlichen für die regionale Entwicklung gehen in Richtung Telematikregion mit den dazugehörigen Telematikarbeitsplätzen."

Klimawandel und Homeoffice

Die Zeiten haben sich geändert, und manche merken es. Die freischaffende Grafikerin Rosa Maria Grieder aus Hardegg hält fest: "Vor 15 Jahren waren die Dörfer an der Grenze am Aussterben, die jungen Leute fanden wenige Arbeitsmöglichkeiten und strebten in die Städte. Aber momentan ist es wieder umgekehrt. Mit der Digitalisierung und dem durch die Pandemie forcierten Homeoffice lebt man wieder gern auf dem Land." Und so mancher überlegt sich, aus der brutheißen Stadt ins kühlere Waldviertel zu ziehen.

Das Schloss von Raabs an der Thaya
Foto: Hans Rauscher

Dienstleistung, sanfter Tourismus, Teleworking – das bedarf gewisser Voraussetzungen: zunächst einmal Menschen, die dienstleisten wollen. Das ist nicht immer einfach im Waldviertel, wo die raue, verschlossene Landschaft manchmal die Menschen zu prägen scheint.

Dann braucht es technische Voraussetzungen für Teleworking wie Breitbandverbindungen, aber auch einen besseren öffentlichen Verkehr. Wenn man will, dass nicht nur ruhesuchende Wiener ganz oder teilweise ins Waldviertel ziehen, sondern auch jene zurückkehren, die jetzt nach Krems, Linz, St. Pölten und Wien "auspendeln" oder ganz wegziehen, dann muss man auch infrastrukturelle Voraussetzungen schaffen.

Radweg

Rudolf Mayer, der Bürgermeister von Raabs/Thaya, verweist darauf, dass seine Gemeinde schon Breitband hat: "Wir haben darauf hingearbeitet, dass wir die Schwelle von 40 Prozent Objekten erreichen." An diesem schönen Sommertag zieht ein steter Strom von tipptopp ausgerüsteten Fernradfahrern vorbei. Die Voraussetzung – dass nämlich die alte Bahnstrecke als Radweg neu adaptiert wurde, stieß zunächst auf die wohlbekannte örtliche Ablehnung. Heute bleiben pro Jahr rund 50.000 Radler in Raabs.

Franz Krestan, der Altbürgermeister von Drosendorf, der sehr viel kulturell getan hat (u. a. gibt es einen permanenten Zirkus im Ort), spricht einen anderen wichtigen Punkt an: "Wir brauchen pro größerem Ort mindestens ein Wirtshaus, das bis Mitternacht offen hat." Drosendorf hat den weithin bekannten Gasthof zum Goldenen Lamm, der nicht unter Auslastungsproblemen leidet. Im Gegenteil: Der neue Pächter weist Gäste, die auf der Terrasse über dem Thayatal reservieren wollen, streng darauf hin: "Da müssen S’ eine Woche vorher anrufen."

Im Hotel Liebnitzmühle an der Thaya ist – wegen der Ruhe – das WLAN von Mitternacht bis fünf Uhr früh außer Betrieb, Kinder sind nicht zugelassen, und unter der Woche gibt es Mittagsküche erst ab 14 Uhr. Wenn das Waldviertel wieder belebter werden soll, dann wird es auch eine Freizeitinfrastruktur benötigen, die nicht vom Geist der Bezugsscheinwirtschaft geprägt ist.

Ausdünnung der Gesundheitsversorgung

Illustration aus dem Buch "Verlassene Heimat" von Franz Krestan.
Foto: Franz Krestan

Dem Aufruf des STANDARD an die Leser vor Ort, die wichtigsten Probleme zu benennen, sind nicht wenige gefolgt. Manche hatten viel über die ÖVP-dominierte Politik zu sagen, etwa über die Ausdünnung der Gesundheitsversorgung: "Es sollte niemanden wundern, dass man im Waldviertel die medizinische Betreuung der davon betroffenen Bewohner/Bewohnerinnen nur von deren Anzahl abhängig macht, gerade so, als ober der Steuer-Euro der Waldviertler weniger wert wäre als der der Wiener Neustädter", schreibt ein Herr aus Gastern, Bezirk Waidhofen/Thaya.

Häufige Klage: "Das Waldviertel ist Schlusslicht bei den Investitionen, wird ausgehungert. Zukunftsweisende Investitionen passieren nur im Speckgürtel um Wien."

Ein anderer, Teil-Waldviertler, fasst zusammen, was auch in etlichen sonstigen Zuschriften immer wieder auftaucht:

Der öffentliche Verkehr und die zu geringen Verbindungen der Eisenbahn; der Lkw-Transit von und nach Tschechien; die Waldviertel-Autobahn sei ja Gott sei Dank gekippt, aber die Lkws gehörten eigentlich auf die Schiene; Raubbau teils durch die Landwirtschaft, teils durch riesige Einkaufszentren und Versiegelung durch Betriebsflächen in der Größe mehrerer Fußballfelder.

Soft Tourism, Soft Skills

Andererseits: Die gelebte Liebe zum Land, zur Landschaft, den Produkten; die Kultur-und Musikszene mit Musikfest Waidhofen, Wackelsteinfestival, Blockheide leuchtet …; nachhaltig biologisch produzierende Firmen wie Sonnentor, Gea, Waldland; sanfter Tourismus-, Wander- und Radwege; die ‚Landuni Drosendorf‘ mit Seminaren und Forschungsworkshops.

Dann gibt es einzelne Unternehmerpersönlichkeiten, die versuchen, aus dem kulturellen Erbe etwas zu machen. In Schloss Drosendorf gibt es seit dem Frühjahr einen neuen Pächter, den Belgier Baudouin de Troostembergh, der das ehemalige Seminarhotel "wachküssen" möchte.

In Fratres gibt es das Museum Humanum mit der anthropologischen Kunstsammlung von Peter Coreth mit tausenden Artefakten aus fünf Kontinenten. Und am Schloss Raabs renoviert seit fast 30 Jahren der Verleger Richard Pils herum. Seine "Bibliothek der Provinz" ist ein ziemlich einzigartiges Unternehmen. Pils hat sich auf schöne, qualitätsvolle Bände mit oft sehr spezieller Thematik konzentriert, weil er dem nicht so Gängigen eine Chance bieten will (selbstverständlich mit Förderung).

Rückkehr in die Heimat

In den Bibliotheksräumen liegen hunderte, wahrscheinlich mehr als tausend Titel auf. "Ich bürde mir zu viel auf", sagt der Mittsiebziger Pils, "pro Jahr mache ich 90 Titel." Vor kurzem gingen dort die "Internationalen Meisterkurse" für junge Musiker und Musikerinnen zu Ende. Pils wollte ein Seminarhotel aus dem Schloss machen, stieß aber nach eigenen Angaben auf eine "Was brauch ma des"-Stimmung.

Die große Frage ist, was mit dem weitläufigen Bau geschieht, wenn Pils einmal die Kraft verlässt. Aber er hat eine sehr kluge Beobachtung gemacht: "Es muss nicht sein, dass die Jugend fortgeht. Wer hier aufgewachsen ist, kommt zurück – wenn er hier ein Erleben hat."

All das ist "soft". Bringt "softe" Arbeitsplätze, verlangt nach Soft Skills, auch nach einer "soften" Mentalität. Einer, die nicht in Großprojekten, Großanlagen denkt (einige Gemeinden haben sich für Windkraftanlagen entschieden, andere dagegen). Aber ist das auch etwas für die Mehrheit der autochthonen Bevölkerung? Zweifellos nicht für alle, aber warum sollen nicht vermehrt Angehörige von Wissensberufen remote vom Land aus arbeiten ?

"Unsere Tendenz zur sinkenden Einwohnerzahl ist gestoppt", verkündet der Raabser Bürgermeister Mayer. Der Altbürgermeister von Drosendorf, Franz Krestan, hat ein Fotobuch über "Verlassene Heimat" herausgegeben. Aber: "Wir können es schaffen, dass Familien zurückwandern." (Hans Rauscher, 27.8.2022)