Eine historische Illustration der Johanna von Orleans aus dem Jahre 1867. Sie ist eine der beiden Hauptfiguren in Helmut Kraussers Zeitreiseroman "Wann das mit Jeanne begann".

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Der deutsche Autor und Vielschreiber Helmut Krausser, Spezialist gerade auch für historische Stoffe, denen er einen gewissen Verfremdungseffekt angedeihen lässt, hat aktuell laut Eigenbekunden einen extrem zeitgenössischen Roman geschrieben.

Es geht in Wann das mit Jeanne begann um nichts weniger als um "das Sterben des weißen alten Mannes". Dass dabei laut Daniel Kehlmann, einem Freund Kraussers, die "sterbende europäische Kultur in ihrer Herrlichkeit und Brutalität" mit untergeht, ist ja nicht die schlechteste Ausgangslage.

Weil sich die Tragödie des alten weißen Mannes aber nicht nur sehr gut anhand der großen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte nachzeichnen lässt, sondern auch im sozialen Mikrorahmen, setzt Krausser in Wann das mit Jeanne begann einen Kunstgriff.

Nörgeleien, Spinnereien

Mit dem Protagonistenpaar Gertrude Clärenore Schmidt alias Trudi und Jacek Wozniak, dem mit ungefähr 200 Jahren wahrscheinlich ältesten Mann der Welt, geht es hinein in die Wirren einer Geschichte, die vom Mittelalter bis in die Gegenwart reicht.

Trudi und Jacek haben sich nach einer hundertjährigen Beziehung, bei der man den historisch enorm belasteten Begriff der Liebe weitestgehend auch Richtung Erdulden deuten muss, arrangiert. Er erträgt die Nörgeleien, sie die Spinnereien.

Die letzten Jahrzehnte des Alten waren geprägt von einer Obsession für zwei Frauen der Weltgeschichte. Zum einen wäre da Johanna von Orleans. Die so naive wie besessene französische Nationalheldin wird von der katholischen Kirche seit 1920 als Heilige verehrt, nachdem sie 1431 von dieser bei lebendigem Leib als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.

Ermordet als Ketzerin

Zum anderen erforscht das ewig zankenden Paar Trudi und Jacek auch das Leben der Jeanne de Belleville, die ein Jahrhundert davor gelebt hat. Eine längere Geschichte. Die heilige Jeanne empfing Nachrichten von Gott, um für Frankreich in die Schlachten gegen die verhassten Engländer zu ziehen.

Aufgrund einer politischen Intrige wurde sie nach Gebrauch als Freiheitskämpferin mit einem enormen symbolischen Kapital als Ketzerin ermordet. Der ebenso blutrünstigen, aber auf eigene Rechnung mordenden Jeanne wurde vom französischen König der Mann genommen, weil er sich im Rahmen andauernder Erbfolgekriege auf die falsche Seite geschlagen hatte und wegen Hochverrats enthauptet wurde.

Bildungshuberei

Jeanne de Belleville schwor dem König Rache, verkaufte die Ländereien, stellte ein Söldnerheer auf, um sich mordend und brandschatzend zur Küste zu durchzuschlagen. Dort kaufte sie ein Schiff, ließ es schwarz bemalen und rote Segel setzen. 13 Jahre lang überfiel sie daraufhin französische Schiffe und tötete deren Mannschaften, bevor sie sich 1356 in England zur Ruhe setzte und dort erneut heiratete.

Helmut Krausser hat schon 1993 mit seinem meisterlichen Roman Melodien oder später mit Thanatos bewiesen, dass er in der Bearbeitung historischer Stoffe im deutschen Sprachraum keine Konkurrenz zu fürchten hat. Das ihm oft als Bildungshuberei nachgesagte Eintauchen in die Geschichte, das souveräne und stilistisch atemberaubende Vexierspiel aus Gestern und Heute, Fiktion und Geschichte mündet in den geradlinigeren, dennoch lesenswerten Abenteuerroman Wann das mit Jeanne begann.

Rabiatperle

Trotz regelmäßiger Veröffentlichungen findet der 1964 geborene, in Berlin lebende Krausser als früher berüchtigte Rabiatperle im deutschen Literaturbetrieb heute kaum noch statt. Sagen wir es so, nachdem es mit sprachlich, stilistisch und trotz aller Leichtigkeit der Vermittlung komplexen Romanen kommerziell nie richtig zündete, ist es die letzten Jahre um Krausser still geworden.

Mit Wann das mit Jeanne begann schließt er an sein 30 Jahre altes Hauptwerk Melodien an. Es geht um Magie, eine Realität hinter der Realität. Die Protagonisten Trudi und Jacek versuchen sich als leidlich begabte Magier an gefährlichen "Zeitreisen".

Zeitreiseroman

Leider langt es nur zu kurzen, dem gewöhnlichen menschlichen Traum ähnlichen "Zeittaumeln" hin zu den zwei Jeannes, den Objekten ihrer Begierde. Prozessakten werden endlos gewälzt, über Zeit und Vergänglichkeit ebenso philosophiert wie gegen eine böse Hexe Zia gekämpft, die für die ganze historische Misere vom Mittelalter herauf bis zu den Nazis mitverantwortlich zeichnet. Ein historischer Zeitreiseroman, teils in gestochen scharfer Hoch-, teils in flapsiger Umgangssprache.

Fantasy-Ballaballa, Songtexte von Bruce Springsteen, Betrachtungen über die Pest als Mutter der Renaissance. Die Genderproblematik, die Seelenwanderung, das Sterben einer überkommenen Welt in Gestalt des alten weißen Mannes – und schließlich das Aufgehen der Zeit in Literatur. Ein bisschen viel ist das Ganze schon. Das trauen sich außer Helmut Krausser nur wenige. (Christian Schachinger, 29.8.2022)