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Dreadlocks sind weder gut noch böse – aber eine Auseinandersetzung mit ihrer Bedeutung ist angeraten.

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Dürfen Kinder Indianer oder käsige Schweizer Reggae spielen? Die Debatte um kulturelle Aneignung läuft meist zwischen dogmatischen Positionen, die Polemik hängt an ihr wie ein Schatten, dabei ist die Aneignungsfrage berechtigt. Der deutsche Autor und Popkritiker Jens Balzer hat einen Essay zum Thema geschrieben. In dem Band Ethik der Appropriation (Matthes & Seitz Berlin, 87 Seiten, 10,40 €) versucht er eine Anleitung zu geben, wie man zwischen guter und schlechter Aneignung unterscheiden kann – denn ohne geht's nicht.

STANDARD: Sie schreiben, Aneignung sei okay, wenn sie, vereinfacht gesagt, keinen idealisierten, reinen Kulturbegriff stützt. Sie soll erfinderisch sein, das Spiel der kulturellen Möglichkeiten erweitern. Sind das gute oder schlechte Nachrichten für blonde Dreadlocks?

Balzer: Ich fände es erstmals eine gute Nachricht, wenn alle, die weiße Dreadlocks-Träger deshalb kritisieren, etwas genauer argumentierten, ja, wenn die überhaupt argumentierten. Das wäre ein Anfang. Bei dem Reggae-Konzert in Bern hat ein anonymer Teil des Publikums sich auf sein Unwohlsein berufen. Ich finde, Unwohlsein ist kein Argument. Und anonym vorgetragenes Unwohlsein schon gar nicht. Wenn man ein Problem hat, muss man es transparent vortragen, sodass man in eine Debatte eintreten kann. Es muss eine Band die Möglichkeit haben zu sagen, in welchem Sinne sie sich auf Dreadlocks und die Rasta-Kultur bezieht.

STANDARD: Ein Veranstalter bucht eine Tiroler Reggae-Band. Wie stellt der fest, ob die gute oder schlechte Aneignung betreibt?

Balzer: Da geht es klassisch darum, ob da in einer interessanten Weise mit Inspiration und Wurzeln umgegangen wird. Es geht um Kritik. Um das, was wir beide beruflich machen. Ob da mit Traditionen mehr oder weniger oder nicht interessant, respektvoll, schöpferisch, reflektierend umgegangen wird. Darum geht es bei kultureller Aneignung. Nur dass da jetzt durch soziale Netzwerke der Traum jedes Kritikers wahr wird: schlechte Kunst einfach verbieten zu können. Solche Fantasien hatte ich natürlich auch schon – ich glaube, jeder Kritiker hat die –, aber auf diese Weise kommt man natürlich nicht weiter. Das Problem ist, es gibt keine offene Debatte. Anders als bei Kritikern, die ihre Einschätzung so zu begründen versuchen, dass dabei eine Idee entsteht, wie man sich zu der Kritik verhalten kann, entsteht bei anonymen Debatten bloß ein diffuses Klima der Unsicherheit. Das ist fatal.

STANDARD: Es ist nie klar, in welchem Ausmaß Einspruch erhoben wird. Wer tut das, wie viele sind das?

Balzer: Genau. Es ist zudem ein Spezifikum der deutschsprachigen Debatte, dass es nur eine angeeignete Aneignungsdebatte ist. Es gab Fälle in den USA, wo das Thema eine längere Geschichte hat, die in die 1980er zurückreicht – da waren es immer Künstler, Aktivistinnen, Historiker oder Wissenschaftlerinnen, die mit Klarnamen Cultural Appropriation kritisiert haben. Bei den aktuellen Beanstandungen gibt es meist zwei Lager. Das konservative und das sehr sensible Lager. Wenn man versucht, das Sensible darzustellen, fällt auf, dass es für diese Hypersensibilisierung keine Grundlagentexte gibt. Man wird keine Position finden, die sagt, das muss so oder so sein. Deshalb ist das so ein diffuser Diskurs in den sozialen Medien.

STANDARD: Dort zählt die gefühlte Wahrheit.

Balzer: Ja, genau. Dennoch finde ich die Debatte nicht illegitim – dieser hysterische Abwehrreflex der Rechten, "das ist Cancel Culture und bedroht die Meinungsfreiheit", das ist ebenso Quatsch und zielt nur darauf, Kritik zu unterbinden. Man muss sich erst einmal fragen, woher kommt die Debatte, was war ihr Gegenstand und ihr Ziel. Wenn man sie zu ihren Ursprüngen, in die USA der 1980er zurückverfolgt, dann ging es damals darum, kulturelle Geschichtsschreibung zu korrigieren, die verfälscht ist – weil sie die Schöpfungen schwarzer Künstler unsichtbar macht und Geschichte stattdessen als Kette von Innovationen weißer Genies erzählt. Kritik an kulturellen Machtverhältnissen ist legitim und gehört für Kritiker prinzipiell zur Berufsbeschreibung. Da kann man ansetzen.

STANDARD: Ein Moralisieren der Kunst wird in der freien Welt traditionell eher abgelehnt. Das sind sehr moralisch geführte Debatte. Erodiert da die Freiheit der Kunst?

Balzer: Es gibt keine Kunst ohne Moral, wer anderes behauptet, lügt. Ästhetik und Ethik sind fundamental miteinander verschwistert. Auf den konkreten Fall bezogen: Wenn man sich als Reggae-Band mit politisch aufgeladenen Symbolen schmückt, muss man in der Lage sein, sich einer politischen Debatte darüber zu stellen, ob diese Symbole richtig gebraucht werden. Das geht mir bei vielen Akteuren im popkulturellen Feld zu schnell. Da will man einerseits Symbole gebrauchen, um sich in eine politische oder kulturelle Tradition zu stellen, dann muss man aber auch über die Angemessenheit und den Symbolgebrauch diskutieren können. Und wenn das kritisch hinterfragt wird, kann man sich nicht einfach auf die Freiheit der Kunst berufen.

Jens Balzer: "Kritik an kulturellen Machtverhältnissen ist legitim."
Foto: Roland Owsnitzki/MSB Matthes & Seitz Berlin

STANDARD: Braucht es einen "Cultural Appropriation"-Sticker wie im Hip-Hop den "Explicit Lyrics"-Sticker, der vor derber Sprache warnt?

Balzer: Der erste Song, der in den 80ern mit einer solchen Warnung belegt wurde, war Darling Nikki von Prince, da geht es um weibliche Masturbation und Fetischsex. Das ist eine ganz andere Form von Schweinkram, als der, mit dem wir es heute zu tun haben; damals war man sich auf der linken Seite noch weitgehend einig, dass jegliche Art von Zensur anti-emanzipatorisch ist und sich insbesondere gegen Minderheiten richtet. Dass sich die Debatte mal so drehen würde, wie wir es heute beobachten, hätte man sich damals nicht träumen lassen. Einerseits. Andererseits ist die wachsende Sensibilität, die sich in der Appropriationsdebatte zeigt, doch richtig. Ein Ergebnis ist etwa, dass Blackfacing global tabuisiert ist. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt, weil das eine Form der Aneignung ist, bei der die Menschen, deren Kultur man sich aneignet, auch noch verhöhnt werden.

STANDARD: Sie nennen das neue Beyoncé-Album als ein Positivbeispiel im Umgang mit dem Thema, weil sie ihre Einflüsse offenlegt. Das tut der Hip-Hop mit Dankeslisten auch. Reicht das?

Balzer: Ich finde das Album interessant wegen seiner Orientierung an der schwarzen queeren Clubmusik. Beyoncé hat die Leute, mit denen sie zusammenarbeitet, aber nicht nur in die Credits aufgenommen, sondern hörbar gemacht. Interessant fand ich, dass sie sich als schwarze amerikanische Künstlerin die queere schwarze Clubmusik neu aneignet. Die war zwar lange präsent, aber nicht so bedeutsam wie Hip-Hop. Das als schwarze Traditionslinie in Erinnerung zu rufen, fand ich gut. Natürlich lauert da die Gefahr, das ein Underground-Phänomen von einem milliardenschweren Star ausgebeutet wird – und dass in vielen Kritiken jetzt zu lesen war, Beyoncé habe ein "House Revival" ausgelöst, ist Unsinn: House war in Wahrheit nie weg. Immerhin zeigt sie aber in ihrer Aneignung dieser Musik für eine größere Öffentlichkeit, dass es eine sexuell transgressive, offene und nicht reaktionäre Form der Musik gibt, die sie auf diese Weise wieder in den Diskurs speist. Es bietet eine Alternative zum Hip-Hop, der über weite Strecken seiner Geschichte ja nicht unwesentlich durch Homophobie und Sexismus geprägt gewesen ist..

STANDARD: Diese Form der Aneignung muss man sich leisten können. Was macht da die kleine Indieband?

Balzer: Da geht es wieder um popkritisches Tagesgeschäft. Warum gingen Vampire Weekend vor zehn Jahren intelligenter mit afrikanischen Rhythmen um als Coldplay heute? Weil sie ihren Eklektizismus offen ausstellten. Weil sie nicht so tun, als hätten sie das selber erfunden. Neulich im Coldplay-Konzert fand ich es extrem unangenehm, wie die Band vorm Konzert kleine Filmchen abspielte, um zu zeigen, welche Umweltprojekte sie gerade im globalen Süden fördert. Damit stellten sie sich als White Saviours dar und sagten, wir machen tolle Sachen für arme Menschen, und das gibt uns die Möglichkeit, etwas von ihrer Musik zu übernehmen. Das ist genau die falsche Aneignung, weil so getan wird, als könnte man damit kulturell Authentizität konsumieren.

STANDARD: Ihr Essay beginnt mit der Aneignung des Indianerspielens während Ihrer Kindheit. In der aktuellen Winnetou-Debatte verstehen viele nicht, warum die Fantasie der Kinder nicht akzeptiert wird.

Balzer: Das ist wieder einmal eine diffuse Debatte, geführt mit den völlig falschen Argumenten. Zum Beispiel: Bei Karl May würde der Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern verschwiegen. Das genaue Gegenteil ist der Fall, da war Karl May politisch wesentlich bewusster, als es ihm gerade unterstellt wird. In dieser Bewusstheit lag aber andererseits auch der Möglichkeitskern für eine – sagen wir mal – reaktionäre Aneignung. Gerade weil der Genozid darin thematisiert ist, hat das wesentlich dazu beigetragen, dass in der westdeutschen Nachkriegszeit die Begeisterung für die Karl-May-Stoffe so groß war, weil man, wenn man sich mit dem edlen Winnetou identifizierte, von der Seite der Täter, also der NS-Generation, auf die Seite der Indianer überwechseln konnte, auf die Seite der Opfer. Wenn man das nicht versteht, versteht man nicht, wo diese Begeisterung herkommt. Und man kann in anderer Hinsicht feststellen, dass die Identifikation mit der Winnetou-Figur emanzipatorische Aspekte besitzt. Die langen Haare, das weiche Gesicht: In den 1970ern bot das eine Möglichkeit, sich als Junge auch im Dorf gefahrlos zu schminken, das war etwas sexuell Transgressives. Gleichzeitig ist es so, dass natürlich die Indianerfigur einen kolonialistischen Blick beinhaltet, weil es den Indianer als solchen ja nicht gibt – sondern Hunderte verschiedener Stämme, die man nicht auf eine Mythosfigur beschränken kann. Wenn man diese Widersprüche wirklich einmal durchdiskutiert, kann das eine Menge bringen.,

STANDARD: In Österreich hat die sonst in Kulturfragen selten auffallende FPÖ "Je Suis Winnetou" getwittert.

Balzer: Ich weiß nicht, ob die FPÖ weiß, wie schwul Winnetou ist. Oder wie ihr Lieblingssänger Andreas Gabalier in knackigen Lederhosen auf manche wirkt. Wenn der in Berlin spielt und 20.000 Brandenburgerinnen und Brandenburger in Lederhosen und Dirndl antreten, dann ist das übrigens eine Form der kulturellen Aneignung, die man auch mal diskutieren könnte. Die Westdeutschen haben sich als Indianer verkleidet, jetzt machen die Brandenburger auf Österreicher, weil sie glauben, dass die Welt in den Alpentälern noch irgendwie in Ordnung ist. Das Bild vom Alpenidyll und den ursprünglichen Landschaften, das Gabalier bedient, da will man dann ein Stück davon abhaben. (Karl Fluch, 2.9.2022)