In einigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union rauchen im Moment noch nicht die Schlote stillgelegter bzw. wieder aktivierter Kohlekraftwerke. Die Zuschaltung zusätzlicher "schmutziger" Anlagen ins europäische Stromnetz, wie im steirischen Mellach, ist da und dort erst in Planung. Das braucht Vorlauf, so dringlich der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit von russischem Gas auch ist.

Umso mehr rauchen in den Regierungszentralen und in der EU-Kommission in Brüssel, in zahllosen Expertenrunden, bei Politikberatern aus der Energiewirtschaft und der Industrie in diesen Tagen die Köpfe. "Es sind hunderte, tausende Menschen, die sich den Kopf zerbrechen", sagt der Vertreter eines Ministers, der gerade aus einer Verhandlungsrunde kommt. Bei all diesen Gesprächen gehe es derzeit vor allem um eine zentrale Frage: Wie kann man die Preise für Strom und Gas, die in den vergangenen Monaten enorm in die Höhe gegangen sind, für die Konsumenten wieder herunterbringen? Was können die EU-Institutionen, die Staaten tun, sei es durch neue Regeln oder durch Subventionen?

Die Europäerinnen und Europäer müssen Energie – und damit Kosten – sparen. Aber wie? Kann die EU wieder einmal einen Rettungsschirm aufspannen?
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Die Folgen – hohe Inflation – bedrohen inzwischen den sozialen Frieden ebenso wie die Wirtschaft und "Europa als Industriestandort", wie Wirtschaftsminister Martin Kocher Mitte der Woche sagte.

Millionen Bürger sind zu Beginn der Wintersaison unrund – in allen Staaten. Viele wissen nicht, wie sie den Strom oder die Heizungsrechnungen bezahlen sollen. Die Ungewissheit, wie es im Herbst und in der Wintersaison weitergeht, trägt das Übrige zur miesen politischen Stimmung bei.

Diese Unruhe und Proteststimmung haben inzwischen auch die Spitze der EU-Kommission alarmiert. Präsidentin Ursula von der Leyen kündigte am Montag an, sie werde bei einem Sondertreffen nächste Woche neue, konkrete Vorschläge präsentieren, um die Preise zu senken. Rasch hat sich das als Nachricht von einem "Energiegipfel" in der EU-Hauptstadt herumgesprochen. Die Erwartungen und Hoffnungen, dass die EU dafür sorgen könnte, den Teufelskreis zwischen mangelnder Versorgung mit Gas aus Russland und exorbitant steigenden Preisen auch für Strom zu durchbrechen, sind hoch.

Wettbewerb der Vorteile

Im Fokus steht das System der sogenannten "Merit-Order", was wörtlich übersetzt "Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit" bedeutet. Es soll langfristig reformiert werden. Diese Regel bestimmt den Strompreis an der Börse im Großhandel EU-weit. Das funktionierte die letzten zwanzig Jahre, von der breiten Öffentlichkeit unbeachtet, relativ gut. Es hat vor der Ukraine-Krise kaum jemanden interessiert, wie der um die Jahrtausendwende geschaffene Strombinnenmarkt nach der Liberalisierung eines früher weitgehend monopolisierten Systems läuft. Strom ist seither gut verfügbar und billig gewesen. Die Österreicher haben sich nach den Berechnungen der Kommission rund 13 Milliarden Euro erspart.

Jetzt geht es in die Gegenrichtung, was mit der Systematik der Merit-Order zu tun hat. Das Besondere an diesem Regelsystem sei, dass ein einheitliches Produkt – der Strom – hergestellt werde, das aber in den EU-Staaten unter völlig verschiedenen Bedingungen zu sehr unterschiedlichen Kosten hergestellt werde. Energie aus Wasser, Wind und Sonne ist billig, so wie Kohle. Atomenergie und erst recht Strom aus Gas kostete am meisten. Die "Order" der EU sorgte dafür, dass im Bieterverfahren jene Kraftwerke zuerst zum Zug kommen, die die niedrigsten Grenzkosten haben. Der Reihenfolge nach werden sie in den Stromkreislauf zugeschaltet, bis die benötigte Strommenge im Markt gedeckt ist. Die letzten Gebote gibt es für die teuersten Kraftwerke, die mit den höchsten Grenzkosten: in der Regel Gaskraftwerke.

Der Preis wird in einem Einheitspreisverfahren bestimmt, das sich im Bieterverfahren am teuersten Kraftwerk orientiert, dessen Strom gehandelt wurde. Der Effekt, den man mit diesem Merit-Order-System im Auge hatte, zielte also auf einen doppelten Effekt ab: Zum einen wurden nachhaltige Energieformen begünstigt, jene aus Wasser- und Windkraft. Weil sie mit dem an der Börse verkauften Strom am meisten Profit erzielten, war es attraktiv, in Ökoenergie zu investieren. Das war auch politisch gewünscht. Zum anderen musste es aber oberstes Ziel der gemeinsamen europäischen Energiepolitik sein, für Stabilität, für Versorgungssicherheit im Stromsektor zu sorgen. Das ist bei heute 27 EU-Staaten nicht so einfach, die völlig verschiedene historische, politische und ökonomische Zugänge bei der Art haben, wie sie Energie und Strom erzeugen. Frankreichs Strom kommt zu 80 Prozent aus Kernkraftwerken, die der Staat subventionierte. Deutschland setzte stark auf Gas aus Russland sowie auf den Ausstieg aus Atomkraft und Kohle.

Diverse Staatsinteressen

Die "neuen" EU-Staaten wie Polen setzten auf Kohle. Länder wie Österreich waren durch Natur und Wasserkraft privilegiert, die Nordeuropäer setzten früh auf Erneuerbare und weiter auf Atomenergie.

Diese Reihe ließe sich fortsetzen, bis hin zur Stadt Wien, die im turbulenten Strommarkt am Wochenende nicht zuletzt deshalb in Zahlungsnot geriet, weil sie praktisch ausschließlich auf Gaskraftwerke setzte und damit Fernwärme erzeugt. Sie wurde von den "irren" Marktpreisschwankungen bei Strom und Gas daher auch besonders getroffen.

Das Berücksichtigen all dieser Unterschiede im Zugang zur Stromerzeugung, nicht nur länderweise, sondern auch tief hinein in die Struktur der Stromkonzerne und regionalen Versorger, ist deshalb so wichtig, weil es erklärt, warum das Eingreifen in den Energiebinnenmarkt und die Reform des Strompreisfindungssystems nicht ganz einfach sind.

Es gibt eine Reihe von Zielkonflikten, aber auch sehr verschiedene Länderinteressen. Jeder will naturgemäß die Vorteile, die er für sich sieht, behalten. Einig sind sich praktisch alle Teilnehmer nur, dass die Preise runtermüssen. Die gute Frage ist: Wie?

"Es ist ein komplexes System, es wäre sogar riskant, wenn man allzu radikale Änderungen vornimmt", schildert ein Verhandler die Lage, "man muss an vielen kleinen Schrauben drehen."

Ökologie gegen Ökonomie

Der Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen den allgemeinen Klimazielen und billigem Strom für Bürger und Industrie, zeigt das anschaulich. Würde man die Merit-Order dahingehend verändern, dass die "Übergewinne" der nachhaltigen Stromerzeuger (Wasser Wind, Sonne) abgeschöpft werden, um damit die Stromerzeugung durch Gaskraftwerke zu fördern (etwa durch Preisdeckel), würde Strom zwar billiger, aber die Klimaziele rückten weiter in die Ferne, weil es weniger attraktiv wäre, in Nachhaltige zu investieren. Man müsste also vorsichtig vorgehen. Dazu kommt, dass das EU-weit schwer einheitlich geregelt werden kann.

Denn die Nationalstaaten beharren auf ihren eigenen Lösungen, die oft gegen den Gemeinnutzen der Union laufen. So hat der Gaspreisdeckel in Spanien dazu geführt, dass im Land billig erzeugter Strom teuer nach Frankreich verkauft wird – im Binnenmarkt logisch.

Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass es bereits nächste Woche beim "Energiegipfel", der "nur" ein Treffen der Energieminister ist, zu einer Lösung kommt. Die Kommission will eine Reihe von "Empfehlungen" aussprechen, wie die Staaten in ihrem Einflussgebiet die Preise senken könnten. In den kommenden Wochen soll dann aus einzelnen Elementen eine Paketlösung erarbeitet werden.

Ähnlich hat man das bereits vor der Sommerpause gemacht, als es um ein Programm zum Einsparen von Energie ging.

Eine Entscheidung zum Stromsektor wird es frühestens im Herbst geben, nach einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs Anfang Oktober. Denn was immer Kommission und Mitgliedsländer ausmachen: Es muss auch noch erst das Europäische Parlament zustimmen.

Die Stoßrichtung, in die es geht, zeichnet sich aber schon ab, und sie scheint bei den Verhandlungen auch breite Zustimmung zu finden: Die Strompreise müssen runter.

Die Merit-Order soll "aufgemacht" werden, indem die Gewinne der Profiteure dieser Regelung, also die Erneuerbaren, etwa für soziale Ausgleichsmaßnahmen verwendet werden. Wie das geschieht, bliebe vermutlich den Staaten überlassen. "Die Strompreise müssen insgesamt runter, um 30 bis 40 Prozent", sagte ein EU-Beamter dem Standard.

Wie das geht, bleibt offen. Die Kommission ruft daher wieder einmal in Erinnerung, was der Ministerrat bereits im Juli beschlossen hat: ein breites Programm zum Einsparen von Energie – durch die Bürger. (Thomas Mayer, 3.9.2022)