Berlin – Auf lange, quälende Beratungen hätte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eigentlich gerne verzichtet. Dann saßen die Spitzen seiner Ampelkoalition am Wochenende aber doch 22 Stunden beisammen, um angesichts der hohen Energiepreise das dritte Entlastungspaket für die Deutschen in diesem Jahr zu schnüren.

"Die Beratungen waren aufreibend", räumte der Grünen-Vorsitzende Omit Nourpour anschließend ein. Scholz jedoch zeigte sich zufrieden und wollte zunächst noch einmal seine Botschaft an seine Landsleute anbringen: "You’ll never walk alone." Niemand werde alleine gelassen. Denn: "Unser Land steht vor einer schweren Zeit. Das gehört zur Wahrheit in diesen Tagen, und diese Wahrheit muss ausgesprochen werden."

65 Milliarden Euro

Dann kündigte er Entlastungen in Höhe von 65 Milliarden Euro an und betonte: "Das dritte Entlastungspaket ist größer als die beiden ersten zusammen." Und so sehen die Hilfsmaßnahmen aus: Rentnerinnen und Rentner bekommen eine einmalige Energiepauschale von 300 Euro, für Studierende beträgt sie 200 Euro. Zum 1. Jänner wird das Wohngeld so reformiert, dass es statt 640.000 rund zwei Millionen Menschen beziehen können. Vorher gibt es Heizkostenzuschüsse.

Die Grundsicherung für Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose ("Hartz IV") wird ab 1. Jänner in ein Bürgergeld umgewandelt und um 50 Euro angehoben. Grundsätzlich gibt es für jedes erste und zweite Kind 18 Euro mehr Kindergeld.

Nachfolge für Neun-Euro-Ticket

Für Beschäftigte mit geringem Einkommen soll die volle Höhe der Sozialbeiträge ab 2023 erst ab einem monatlichen Einkommen von 2000 Euro statt derzeit 1600 Euro greifen. Die Koalition verschiebt auch die eigentlich zum 1. Jänner geplante Anhebung der Kohlendioxid-Bepreisung für fossile Brennstoffe um ein Jahr. Das beliebte Neun-Euro-Ticket soll es nicht mehr geben, aber die Regierung will sich mit den Bundesländern auf eine Nachfolgeregelung zum Preis von 49 bis 69 Euro einigen.

Zum Paket gehört auch eine "Strompreisbremse" für die Bürgerinnen und Bürger. "Den Privathaushalten kann so eine gewisse Menge Strom zu einem vergünstigten Preis gutgeschrieben werden (Basisverbrauch)", heißt es in dem Beschlusspapier. Finanziert werden soll dies durch Abschöpfung von hohen Gewinnen bei jenen Energiefirmen, die nicht mit Gas produzieren, sondern auf erneuerbare Energien, Kohle- oder Atomstrom zurückgreifen. Von einer "Übergewinnsteuer" will die Ampel hier aber nicht sprechen, lieber von "Zufallsgewinnen".

Nach einem Sitzungsmarathon konnte Kanzler Olaf Scholz (Mitte) die Einigung der Ampelkoalition verkünden.
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Abschöpfung von Zufallsgewinnen

So steht im Ampel-Papier: "Durch die teilweise Abschöpfung von Zufallsgewinnen entstehen finanzielle Spielräume, die gezielt für die Entlastung der Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa genutzt werden sollen." Scholz verspricht, dass er sich für eine Lösung auf EU-Ebene einsetzen werde – Maßnahmen würden ja schon diskutiert. Doch er betonte am Sonntag auch, dass Deutschland bereit sei, hier notfalls einen nationalen Alleingang zu starten. Details nannte er nicht.

Angesichts des Stopps der Lieferung russischen Gases durch die Pipeline Nord Stream 1 (laut Russland wegen technischer Schwierigkeiten) erklärte Scholz: "Russland ist kein zuverlässiger Energielieferant mehr." Doch er sagte auch: "Wir haben alle Entscheidungen getroffen, dass unsere Energieversorgung sicher ist." Man werde durch den Winter kommen. Derzeit sind die deutschen Gasspeicher zu 85 Prozent gefüllt. Diese Marke wurde früher erreicht als geplant.

Die Verhandlungen haben 18 Stunden gedauert.
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Finanzminister Christian Lindner (FDP) geht davon aus, dass man durch die Abschöpfung des "Zufallgewinns" einen zweistelligen Milliardenbetrag erhalten werde. Das Entlastungspaket werde den Bund in den kommenden zwei Jahren 23 Milliarden Euro kosten. Zudem habe man schon gewisse Vorkehrungen getroffen. Dadurch, so Lindner, werde es auch gelingen, 2023 ohne neue Schulden auszukommen und die Schuldenbremse wieder einzuhalten. (Birgit Baumann aus Berlin, 4.9.2022)