Das enorme internationale Echo beweist, dass Michail Gorbatschow, diese historisch einzigartige Persönlichkeit, eine über seinen Tod hinausreichende Faszination ausübt.

Wir im Westen bewundern ihn zu Recht als den eigentlichen Zerstörer des Sowjetsystems und des Ostblocks, obwohl es bis zuletzt sein Ziel gewesen war, beides zusammenzuhalten. Für die meisten Russen war er aber jener Politiker, der nach sechs Jahren an der Macht (1985–1991) das Erbe Stalins verspielt hatte. Bei den Präsidentschaftswahlen 1996 erhielt er folgerichtig bloß 0,5 Prozent der Stimmen.

Das enorme internationale Echo beweist, dass Michail Gorbatschow eine über seinen Tod hinausreichende Faszination ausübt.
Foto: IMAGO/Ramil Sitdikov

Dass Gorbatschow in seiner Heimat als eine zutiefst widersprüchliche Figur in Erinnerung blieb, hatte ich im Juni 1992 in kleinem Kreis bei der Moskauer Sitzung der "Osteuropa"-Arbeitssitzung der Bertelsmann-Stiftung erlebt. Unterwegs zu uns ins Hotel bekam der Ex-Präsident vielleicht zum ersten Mal den Hass breiter Bevölkerungsschichten sozusagen hautnah zu spüren. Mit wohlwollender Duldung der Ordnungskräfte hatten einige Tausend Demonstranten der noch kommunistisch gelenkten Gewerkschaften gegen Gorbatschow vor dem Büro seiner mit dem Geld des Friedensnobelpreises gegründeten Stiftung am Leningradskij Prospekt lautstarke Proteste organisiert. Da er kurz vorher zur Übernahme eines israelischen Friedenspreises in Haifa gewesen war, trugen manche Leute antisemitische beziehungsweise Anti-Israel-Plakate.

Gorbatschow musste das Gebäude durch den Hinterausgang verlassen; er war verspätet und offensichtlich aufgewühlt. Ich hatte am Anfang ganz den Eindruck, er wollte fast weinen. Mit tränenerstickter Stimme begann er einen kurzen Exkurs. Er wirkte auf uns als ein gebrochener Mensch, der damals noch immer mit der Tatsache seines jähen Sturzes nach dem gescheiterten Putschversuch nicht fertig werden konnte. Er übte bittere Kritik an den Zuständen in Russland und vor allem an der Person seines verhassten Nachfolgers Boris Jelzin.

Putins Unterstützer

Zehn Jahre später sprach er bei einem von mir geleiteten runden Tisch in Wien vor etwa 500 Zuhörern schon optimistischer über die wirtschaftliche Lage in Russland. Er versicherte mir, dass er den Kurs Wladimir Putins fest unterstütze. Für ihn blieb Jelzin der Feind, der die Demokratie vernichtet hatte. Er mied auch später eine klare Stellung gegenüber Putin, kritisierte dessen außenpolitischen Kurs nie und verteidigte die Annexion der Krim.

Zur Finanzierung seiner Stiftung dienten nicht nur Vortragshonorare zwischen 20.000 und 50.000 US-Dollar vor seiner Erkrankung, sondern sogar lukrative Werbeauftritte für Pizza Hut und Louis Vuitton weltweit, sie wurden aber natürlich nie in Russland selbst gezeigt. Seine Feinde behaupteten, er habe sich an die Amerikaner verkauft, obwohl gerade seine Bemühungen um die Finanzierung der Stiftung ein Beweis dafür waren, dass Gorbatschow nie korrupt war.

Putin hat seinem Vorvorgänger kein Staatsbegräbnis gewährt. Alexej Nawalny schrieb aus dem Gefängnis, er sei überzeugt, dass nachfolgende Generationen Gorbatschow, der seine Macht nie dafür benützt habe, sich selbst zu bereichern, und seinen Posten freiwillig verlassen habe, noch würdigen werden, mehr als seine Zeitgenossen es tun. (Paul Lendvai, 5.9.2022)