Kayije Kagame in Alice Diops Gerichtsdrama "Saint Omer".

Foto: Filmfestival Venedig

Bis auf eine verwaiste Teststation erinnert auf dem Festivalgelände des Lido nichts mehr an die Pandemie. In den Kinos sitzt man wieder Ellbogen an Ellbogen, die "mascherina" hängt daran wie ein lästig gewordenes Utensil. Das Lockdown-Dasein bleibt nur in den Filmen wie ein Phantom präsent. Ein gewisser Hang zu Kammerspielen und Familiendramen erklärt sich leicht dadurch, dass diese unter Covid-Sicherheitsvorkehrungen einfacher zu drehen waren als Produktionen mit großem Cast.

Geistergeschichte

Ein Beispiel dafür ist The Eternal Daughter: Tilda Swinton hat im Film der Britin Joanna Hogg gleich eine Doppelrolle als Mutter und Tochter. Der Film zitiert die Atmosphäre einer Geistergeschichte: Nebel schwebt an den Fenstern des alten Landhotels vorbei, in dem das Paar einige Tage fast in Isolation verbringt, um sich Erinnerungen zu stellen und einander näherzukommen.

Wie schon The Souvenir hat auch The Eternal Daughter eine autobiografische Note. Die jüngere Swinton ist eine Stellvertreterin der Filmemacherin, die einen Film über ihre Mutter plant, aber eine Schreibblockade hat. Ein zweites Shining ist der Film jedoch nicht. Der "Spuk" ist dezentes Beiwerk einer einmal schwermütigen, dann wieder leichtfüßigen Studie eines vertrackten Mutter-Tochter-Verhältnisses.

Sony Pictures Classics

Auch Florian Zellers The Son, Nachfolgefilm zu seinem prämierten The Father, ist eine Corona-Produktion. Hier kippt die Familienkonstellation mehr und mehr ins Melodramatische. Hugh Jackman verkörpert einen slicken Anwalt in New York, der seinen jugendlichen Sohn aus erster Ehe bei sich aufnimmt. Dieser leidet an einer Depression, nicht am Mangel an Ambition – der Vater ist mit seinem Selfmademan-Glauben dafür blind.

Werte und Klasse

Interessanter als die etwas absehbare Abwärtsspirale des Films ist sein Sinn für das Wertesystem einer Klasse. Die Idee, dass man sich nur ein wenig stärker anstrengen muss, um in der Welt zu bestehen, macht alles nur schlimmer. The Son bleibt allerdings zu mechanisch, um wirklich unter die Haut zu gehen.

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Die dritte Familienkonstellation ist die abgründigste von allen. Eine junge Mutter afrikanischer Herkunft steht in Frankreich vor Gericht, weil sie ihr Kind am Meer zurückgelassen hat und es ertrunken ist. Eine junge, schwarze Intellektuelle ist bei der Verhandlung dabei und wird durch den Prozess in ihrem Selbstverständnis erschüttert. Saint Omer von der Französin Alice Diop ist einer der stärksten Filme des Wettbewerbs: eine faszinierende Reflexion über eine moderne Medea, deren Motive sich nie vollkommen erschließen. Gerechtigkeit und Wahrheit kommen nicht zur Deckung. In einer strengen, einfache Antworten vermeidenden Form erzählt Diop von kulturellen Differenzen – nicht nur zwischen Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch von jenen innerhalb der Diaspora. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 8.9.2022)