Ursula von der Leyen will alles Denkmögliche tun, um das Leben von Menschen zu retten.

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Es war eine große, eine starke und auch eine mutige Rede zur Lage der Europäischen Union, die Ursula von der Leyen am Mittwoch vor den Abgeordneten des Parlaments in Straßburg gehalten hat.

Die Kommissionspräsidentin sprach direkt und klar aus, dass auf alle in Europa wegen des Krieges in der Ukraine und seiner Folgen schwere Zeiten zukämen. Das zu bewältigen werde komplexe Anstrengungen aller erfordern, seitens der Bürger ebenso wie seitens der Mitgliedsstaaten und der gemeinschaftlichen Institutionen. Ohne Solidarität, ohne Verzicht auf Gewinne, ohne Mitgefühl für Schwächere, ohne das mutige Zusammenstehen der Staaten werde man Krieg und Krise nicht überwinden.

Nicht zufällig rückte die Christdemokratin aus Deutschland das Wort "Solidarität" immer wieder ins Zentrum ihrer Ausführungen. In den EU-Verträgen ist eine verantwortliche ökosoziale Marktwirtschaft als Grundprinzip verankert, aufbauend auf Respekt, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten.

Das vorausgesetzt, gelang es der Kommissionspräsidentin, eine "große Erzählung" abzuliefern, was das Wesen dieser Gemeinschaft in Zeiten des Krieges ausmacht – auch wenn der russische Aggressor Wladimir Putin versucht, dieses humanitäre Europa über Umwege zum Kippen zu bringen, um die alte Ordnung des Kalten Krieges wiederherzustellen.

Von der Leyen redete auch diesbezüglich nicht lange herum. Eine Politikerin an der EU-Spitze hat einen Vorteil: Sie muss sich nationalen Befindlichkeiten nicht unterwerfen. Sie kann den Überblick liefern, zu dem so viele Regierungschefs aufgrund nationaler Befangenheit nicht fähig sind. Putin habe "eine Spur des Todes und der Vernichtung" gezogen. Deshalb könne es kein Wackeln geben. Es gehe darum, ob in Europa die Demokratie erhalten bleibe oder die Autokratie des Kreml obsiege.

So lag durchaus ein Hauch von Winston Churchill in der Luft, der den Briten im Zweiten Weltkrieg in einer Rede an die Nation "Blut, Schweiß und Tränen" abverlangte, als es galt, den Angriff von Hitler-Deutschland abzuwehren, Krieg gegen die Diktatur zu führen.

Im Krieg mit Russland befindet sich das gemeinsame Europa zum Glück nicht. Es will sofortigen Frieden. Aber umso wichtiger war es, dass die "Hüterin der Verträge" unmissverständlich klarstellte, auf wessen Seite sich die Union stellen muss, wenn sie sich und ihre Freiheit nicht aufgeben will: auf die Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer.

Die große Mehrheit der Abgeordneten in Straßburg hat die Worte von der Leyens verstanden und beklatscht, auch wenn es zwischen den politischen Gruppierungen naturgemäß Unterschiede bezüglich der Frage gibt, wie Maßnahmen nun konkret ausgeführt werden sollen. Auch die als Ehrengast geladene Olena Selenska, Frau des ukrainischen Präsidenten, wurde mit großem Applaus begrüßt. Nur eine Fraktion im Europaparlament sieht das offenbar ganz anders, steht sichtbar nicht auf der Seite der EU: die Fraktion der extremen Rechten, die sich "Identität und Demokratie" nennt und der die FPÖ ebenso angehört wie Italiens Lega und die Lepenisten. Sie boykottierten von der Leyens Rede, waren nicht im Saal.

Sie wurde seit 2019 oft als politisches Leichtgewicht beschrieben, weil von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit einer Intrige an die Macht durchgedrückt – mit dieser Rede hat sich von der Leyen als starke Lotsin gezeigt. (Thomas Mayer, 14.9.2022)