Jahrzehntelang wurde es gefordert und erwogen, jetzt ist es vollbracht: Die schleichende Steuererhöhung aufgrund der kalten Progression ist größtenteils abgeschafft. Das Echo auf den Schritt der türkis-grünen Regierung fällt im Allgemeinen positiv aus: Der Staat hat die Steuerpflichtigen ungerechtfertigterweise ausgesackelt, lautet der Tenor, jetzt bekommen sie endlich ihr Geld zurück.

Die Steuerpflichtigen haben ihr Geld auch bisher stets zurückbekommen – in Form von Steuerreformen und -senkungen.
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Aber so einfach ist es nicht. Die Steuerpflichtigen haben ihr Geld auch bisher stets zurückbekommen – nur eben nicht in Form eines automatisierten Ausgleichs, sondern in Form von Steuerreformen und -senkungen. Verlässlich alle paar Jahre fanden diese bisher statt, mit viel politischem Brimborium rundherum. Die Gelder, die solcherart rückverteilt und auf andere Weisen ausgegeben wurden, entsprachen im Wesentlichen den Summen, die Arbeitnehmer künftig als Ausgleich der kalten Progression automatisch bekommen werden.

Derartige Steuerreformen sind künftig nicht mehr möglich. Und genau das verweist auf das Problem an der Abschaffung der kalten Progression: Ja, viele Leute werden mehr Geld in der Geldbörse haben, mehr Netto vom Brutto. Aber die Politik kann nicht länger gestalten, wer in welchem Ausmaß profitiert. Das betrifft nicht nur direkte finanzielle Unterstützungen für jene, die es brauchen, sondern auch Geld für öffentliche Leistungen. Die Politik verliert also an Spielraum, Bereiche zu bestimmen, in denen sie es als klug und notwendig erachtet, Geld auszugeben.

Notwendiger Spielraum

Dabei wäre dieser Spielraum gerade jetzt nötig. Der Staat braucht dringend Geld, um die kurz- und mittelfristigen Herausforderungen zu stemmen, die auf die Gesellschaft zukommen. Kurzfristig wäre da die Notwendigkeit, die Gesellschaft vor den finanziellen Verwerfungen der Energiekrise zu schützen: nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch Instanzen wie etwa Österreichs Gemeinden, die angesichts horrender Energiepreise gerade darum ringen, Schwimmbäder und Eislaufplätze weiterhin offen halten zu können. Mittelfristig muss der Staat die Aufgaben der Zukunft ausreichend finanzieren: beispielsweise in den Bereichen Bildung, Pflege und Energiewende.

All das kostet viel Geld, von dem weniger zur Verfügung stehen wird. Denn die Regierung verteilt in den kommenden fünf Jahren rund 20 Milliarden Euro an die Steuerpflichtigen als Ausgleich der kalten Progression. Es stimmt schon, irgendwie steht den Menschen dieses Geld zwar zu. Dennoch – es fehlt an anderer Stelle.

Deshalb ist es gut, dass der Staat die kalte Progression zumindest nicht zur Gänze abgelten wird, sondern nur zu zwei Dritteln – mit dem dritten werden Geringverdiener gezielt entlastet. Deshalb wäre es noch besser gewesen, wenn die Regierung den Ausgleich vorerst nur befristet vorgenommen hätte, etwa für die Dauer der Krise. Dann hätte sie sich nicht dauerhaft ihres Spielraums begeben. Denn zurückdrehen lässt sich die Maßnahme, einmal beschlossen, garantiert nicht mehr. (Joseph Gepp, 15.9.2022)