Lendvai attestiert österreichischen Innenpolitikern Fahrlässigkeit im Umgang mit autoritären Regimen.
Foto: Heribert Corn

Es gibt, über die vielfältigen direkten Folgen des Ukrainekrieges hinaus – Flüchtlingsstrom, Wirtschafts- und Energieprobleme –, derzeit auch eine wenig beachtete potenzielle Gefahr, die sozusagen von innenpolitischen Akteuren ausgeht. Statt einer moralisch glaubwürdigen und staatspolitisch einwandfreien Haltung gegenüber Putins Russland, Orbáns Ungarn und anderen autoritären Regierungen hat man in den letzten Jahren immer wieder bedenkliche Tendenzen der unprofessionellen Naivität und verdeckten Komplizenschaft, geschmückt mit geistiger Fahrlässigkeit und der Ignoranz entsprungenem Hochmut, beobachten können. Diese Haltung war und ist politisch brandgefährlich und auch wirtschaftlich schädlich.

Man darf nicht vergessen, dass die österreichische Russland-Politik nicht erst mit dem Knicks Kneissls nach dem Walzer mit Putin oder mit den verbalen Unterwerfungsgesten von Kurz in eine bedenkliche Richtung gerutscht ist. Schon Jahre zuvor hatte Ex-SPÖ-Bundeskanzler Gusenbauer als fürstlich bezahlter Lobbyist für autoritäre postsowjetische Regime noch immer als einer der Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationale und als Präsident des SPÖ-Renner-Institutes gewirkt. Als Co-Vorsitzender der vom Putin-Vertrauten Wladimir Jakunin geführten Denkfabrik Dialog der Zivilisationen wurde er noch als Bundeskanzler mit deren Internationalem Preis ausgezeichnet. Der Ex-Bundeskanzler kritisierte wiederholt die nach der Annektierung der Krim verfügten westlichen Sanktionen gegen Russland.

Moskaus Gas-Tropf

In seinen Fußstapfen bewegte sich sein Nachnachfolger Christian Kern, der während seiner kurzen Kanzlerschaft keine Zeit verlor, sich beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum auch im Interview mit dem Propagandasender Sputnik"für die schrittweise Aufhebung der EU-Sanktionen" auszusprechen. Ähnlich äußerten sich seine Begleiter Siegfried Wolf und Rainer Seele, Vorstandsvorsitzender der OMV, beide erhielten bei Gelegenheit von Putin auch den "Orden der Freundschaft".

Beim Petersburger Wirtschaftsforum wurde laut Presseberichten Kern, der einzige anwesende EU-Regierungschef, als "Stargast" behandelt. Kern verzichtete zwar nach öffentlicher Kritik kurz nach dem russischen Angriff auf seine Funktion als Aufsichtsrat der russischen Staatsbahnen, der er seit Juli 2019 war, aber noch zwei Tage davor hatte er sich in den Salzburger Nachrichten gegen "eine Rhetorik der donnernden Faust" ausgesprochen: "Sanktionen haben bestenfalls symbolische Wirkung. Einen Regime- oder Politikwechsel können sie nicht bewirken." Außerdem sei nicht alles an der russischen Argumentation falsch. Auch in der ORF-Sendung Im Zentrum plädierte er für Verständnis gegenüber Russland.

Allesamt Putin-Versteher

Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass bei einer Reise von Bundeskanzler Sebastian Kurz nach Petersburg im Herbst 2018, bei der ein Treffen mit Putin auf dem Programm stand, die gleiche "Mannschaft", nämlich Siegfried Wolf und Rainer Seele, diesmal ergänzt durch den Milliardär René Benko, seine Begleitung bildete. Dass dank Wolf, der zwischen 2002 und 2015 im Aufsichtsrat der Staatsholding ÖIAG saß, ab 2014 als deren Aufsichtsratsvorsitzender, und dem von ihm favorisierten deutschen Manager Rainer Seele als OMV-Vorstandschef (2015–2021) der österreichische Mineralölkonzern völlig auf die engste Zusammenarbeit mit der russischen Gazprom ausgerichtet wurde, war ebenso bekannt wie ihr gutes Verhältnis zu Präsident Putin. Dass Österreich wie kaum ein anderes europäisches Land an Moskaus Gas-Tropf hängt, ist kein Zufall, sondern ihr "Verdienst".

Der ausgebootete OMV-Chef Gerhard Roiss habe nach dem russischen Angriff beschlossen, so in einem Profil-Interview, "nicht mehr schweigend darüber hinwegzusehen, dass Österreich und die OMV von einer Gruppe von Leuten, allesamt Putin-Versteher, gezielt in eine Abhängigkeit von Russland gelenkt wurde. Diese Leute haben ihre eigenen finanziellen Interessen über jede Moral gestellt." Der faktische Eigentümervertreter der OMV zwischen 2014 und 2017 war ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling, der nur einige Monate nach seinem Ausscheiden aus dem Amt Berater von Gazprom für das Nord-Stream-2-Pipeline-Projekt wurde, an dem auch die OMV beteiligt ist.

Die teilstaatliche OMV und die russische Gazprom haben ihren bestehenden Gasliefervertrag im Juni 2018 in Wien im Beisein von Russlands Präsident Wladimir Putin bis 2040 verlängert. Ein Foto zeigt die beiden Firmenchefs Seele und Alexei Miller in fast inniger Umarmung, im Hintergrund stehen jovial lächelnd Kurz und Putin. Einige Wochen später nahm Putin an Kneissls Hochzeit in der Südsteiermark teil, die Bilder vom Tanz des russischen Staatschefs mit der österreichischen Außenministerin sorgten für weltweite kritische und hämische Kommentare. Dass Sebastian Kurz im Oktober desselben Jahres offiziell zur Eröffnung einer Ausstellung nach Moskau fuhr und damit Putin innerhalb eines Jahres zum vierten Mal traf, hat die Beobachter, nicht nur in Österreich, verwundert.

Bitte White House anrufen

Die Rolle der blauen Außenministerin Kneissl und die Folgen der türkis-blauen Koalitionsära, als alle Nachrichten- und Abwehrdienste unter Kontrolle der FPÖ-besetzten Ministerien für Inneres und für Verteidigung waren, schädigen übrigens noch Jahre später das Ansehen Österreichs. Die Spitzenführung der FPÖ hatte bekanntlich Ende 2016 in Moskau mit der Kreml-Partei Einiges Russland eine "Vereinbarung über Zusammenwirken und Kooperation" unterzeichnet. Als das EU-Parlament nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ein schärferes Auftreten der Europäischen Union gegen die Einmischung von Russland und China, einschließlich Sanktionen, verlangte, nannte der von den Abgeordneten in Straßburg beschlossene Bericht ausdrücklich die frühere Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) und die Freiheitliche Partei als Negativbeispiele für die Einflussnahme des Kreml auf die EU. All das hindert die FPÖ nicht daran, auch inmitten des Ukrainekrieges ein Ende der Sanktionen gegen Russland – "im Hinblick auf die österreichische Neutralität" – zu fordern.

Siegfried Wolf dürfte aufgrund der inzwischen bekannt gewordenen Chats bei der Anknüpfung der Fäden zwischen Moskau und Wien eine Schlüsselrolle gespielt haben. Der 65 Jahre alte Multimillionär war 15 Jahre lang Spitzenmanager bei Magna und anschließend bis 2019 Chef und Mitbesitzer einer Fahrzeug- und Maschinenbaufabrik in Russland, die mehrheitlich dem Imperium des Putin-nahen Oligarchen Oleg Deripaska gehörte. Die im März 2022 bekannt gewordenen Chats zeigen, wie Kurz bei der versuchten Abmilderung von US-Sanktionen gegen den russischen Oligarchen auf wiederholte Bitten von Wolf helfen sollte: Unter anderem im STANDARD wurden die wiederholten Chat-Bitten Wolfs veröffentlicht.

Dieser schrieb am 6. November 2018: "Sebastian guten Morgen – wenn du heute mit US redest dann sollten die uns bitte sagen was US noch von uns verlangt?" Einen Monat später bat er Kurz sogar, den damaligen US-Finanzminister Steve Mnuchin oder Außenminister Mike Pompeo anzurufen: "Ich brauche nochmal deine Hilfe in meiner Angelegenheit." Am 21. Februar 2019, während der Reise von Sebastian Kurz in die USA, schrieb ihm Wolf wieder wegen der Sanktionen gegen Deripaskas Autokonzern GAZ, an dem auch Wolf beteiligt war: "Lieber Sebastian – guten Morgen. Sag konntest du etwas erreichen? Bitte um Info – Danke Sigi". Die Antwort: "Lieber Sigi! War sehr, sehr gut. Bitte lass uns direkt reden sobald ich in Wien bin. AL". Was "sehr, sehr gut" genauer bedeutet, ist nicht bekannt. Allerdings: Deripaska steht nach wie vor auf der US-Sanktionsliste. Wolf probierte es auch später noch – im Jänner 2020, also schon in der türkis-grünen Koalition – und bat Kurz, er möge "noch einmal White House (...) bitte anrufen".

Intensive Pflege der Kontakte

Es muss für einen normalen Staatsbürger wie ein Ausschnitt aus einer Netflix-Serie scheinen, wie ein österreichischer Unternehmer den eigenen Regierungschef bittet, bei zwei US-amerikanischen Kabinettsministern zugunsten eines der reichsten russischen Oligarchen zu intervenieren. Es wäre in anderen demokratischen Ländern ein Megaskandal gewesen.

Man darf auch Wolfs Lobgesänge auf Putin nicht vergessen. So hat er nach der Annexion der Krim in einer Rede in Graz erklärt, er kenne den russischen Präsidenten Putin, mit dem er regelmäßig "sehr persönliche Gespräche" führe, sehr gut. Putin reagiere auf Kritik "positiv, cool, und da ist er ein sehr, sehr, sehr korrekter Mann". Putin habe "Leadership", was er "in großem Maße" in der EU vermisse. "Da würde ich mir ein bissl mehr russische Demokratur wünschen." Es ist also nicht übertrieben, Siegfried Wolf als den Frontmann der sichtbaren Fraktion der Putin-Freunde in Österreich zu betrachten.

Die Kurz/Strache-Regierung pflegte übrigens auch die Kontakte mit Viktor Orbán in Ungarn und Aleksandar Vučić in Serbien, trotz Kritik der Opposition und aus Brüssel, sehr intensiv, geradezu demonstrativ. Am Vorabend der ungarischen Parlamentswahlen 2018 absolvierte Orbán einen offiziellen Besuch in Wien. Schöne TV-Bilder zeigten, wie die ganze Führungsgarnitur der FPÖ in der ungarischen Botschaft Orbán ihre Reverenz erwies. Orbáns wahre Liebe gehörte den Freiheitlichen. So begrüßte er Strache in Budapest im Mai 2019 überschwänglich und erklärte der Kleinen Zeitung in einem Interview: "Europa sollte das Modell Österreich übernehmen. Die rechte Mitte arbeitet mit der Rechten zusammen. Von Budapest aus betrachtet, scheint das erfolgreich zu sein." Zwei Wochen später explodierte die "Ibiza-Bombe" mit den aufgenommenen brisanten Lobliedern Straches: Wir wollen eine Medienlandschaft ähnlich wie Budapest.

Paul Lendvai, "Vielgeprüftes Österreich. Die politische Geschichte Österreichs: Eine zwiespältige Bilanz"
€ 26,– / 312 Seiten
EcoWing, Elsbethen 2022
Das Buch erscheint am 22. 9. und wird an diesem Tag um 18 Uhr im Musikzimmer der Diplomatischen Akademie Wien präsentiert.

Autoritäre Herrscher als Vorbilder?

Kurz blieb aber auch nach der Bildung der neuen Koalitionsregierung mit den Grünen bei dieser Linie und forderte "Fairness für Polen und Ungarn". Darüber hinaus intensivierte er die Beziehungen mit dem Orbán-nahen, rechtspopulistischen slowenischen Regierungschef Janez Janša, ging mit ihm sogar bergsteigen und wünschte ihm auf Facebook viel Erfolg bei den Parlamentswahlen. Diese hat Kurz' Freund allerdings im April 2022 haushoch verloren. Er machte auch seine Aufwartung beim autoritären, nationalistischen serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vučić in Belgrad. Kurz bekam bei diesem Anlass sogar den "Orden der Republik Serbien am Band" für seine "Verdienste um die Beziehungen mit Serbien und der gesamten Region des Westbalkans".

Da fragen sich kritische Beobachter: Ist das alles bloß eine Mischung aus abgrundtiefer Ignoranz und angeborener Eitelkeit mit Naivität oder mehr? Ist das eher so, wie Hans Rauscher im STANDARD meinte, Kurz halte die osteuropäischen autoritären Herrscher für Vorbilder? Oder waren es die beiden zynischen ÖVP-Granden Wolfgang Schüssel und Andreas Khol, denen er in seiner Abschiedsrede ausdrücklich für ihren Rat dankte, die seinen Weltblick mitgeprägt hatten? Wir wissen all das nicht, aber die Tatsache, dass er bei dem bizarr-schrecklichen US-amerikanisch-deutschen Milliardär und Politaktivisten Peter Thiel als eine Art "Europa-Botschafter" angeheuert hat, scheint eher die düstere Version zu bestätigen. (ALBUM, Paul Lendvai, 17.9.2022)