Niemand schreibt schneller: Stephen King (75) veröffentlichte zeitweise zusätzlich unter dem Pseudonym "Richard Bachman" – nur um mit sich selbst Schritt zu halten.

Foto: Shane Leonard

Auf die Wichtigkeit von Fleiß und Verbissenheit für das eigene Fortkommen hat ein Doppelgänger von Stephen King eindrucksvoll hingewiesen. In dem King-Roman Shining (1977) nutzt der Schriftsteller Jack Torrance seine Aushilfsstelle als Hotelwart, um für die Dauer eines Winters ein und denselben Satz in eine klappernde Schreibmaschine zu hacken.

Man sieht Jack Nicholson vor sich, wie er, selig in sich selbst versunken, in Stanley Kubricks ikonischer Verfilmung Berge von Papier neben sich stapelt. Der Manuskriptsatz bildet den alleinigen Ausdruck eines sich unumkehrbar steigernden Wahns. Er lautet (in der deutschen Version): "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen."

Über den unschönen Fortgang der Dinge im eingeschneiten Luxushotel mit Namen Overlook muss kein weiteres Wort verloren werden. Die Axt fährt mit Macht durch die Tür, und Jack Torrance bleibt, von bösen Geistern gehetzt, für die Segnungen der Eheberatung völlig unzugänglich. Stephen-King-Bilder sind ikonisch. Es ist von jeher unvermeidlich, in das mehr als 50 Romane umfassende Horroruniversum von Stephen Edwin King, heute vor 75 Jahren in Portland (US-Bundesstaat Maine) geboren, einzudringen.

Eine Art Produktionsmittel

Jeder Abnehmer von Produkten der Kulturindustrie kennt sie, die von King ungemein versiert als "Pageturner" konzipierten Spannungsschmöker, deren Umfang auf Deutsch kaum je die 600-Seiten-Grenze unterschreitet. Man muss nicht unbedingt die Bahnhofsbuchhandlung seines Misstrauens aufsuchen, um sich über das Angebot von Kings Horrorladen aktuell in Kenntnis zu setzen. Bertolt Brecht reihte übrigens Krimis – rasch gelesen, noch rascher vergessen – in die Gruppe der für seine Kreativität unerlässlichen Produktionsmittel, wie Tabak und Erotik, ein.

In Derry (Maine) haust ein bemerkenswert fieser Weißclown unterm Kanaldeckel. Er hilft aufrechten US-Jugendlichen eher unwillig beim Erwachsenwerden (Es). Ein 1958er-Plymouth ist quicklebendig und empfindet tödliche Eifersucht (Christine). Tote erwachen, wahlweise auch in kleidsame Tierpelze gehüllt, oder sie stehen mit zerschossenen Gesichtshälften an Straßenecken und winken von dort kleinen Kindern zu (Später). Praktisch jede kennt die dazugehörigen Stoffe, imaginiert die Bilder, wird unfehlbar von einer Gänsehaut überlaufen. Man findet sich wieder im Heer der Kinogeher. Stephen-King-Bücher sind vollgestopft mit Jugendlichen. Sie strotzen vor "Wimmerlagenten" (H. C. Artmann), Kids mit mysteriösen Anlagen, Frühreifen mit ominösen Begabungen, Verstörten und Verstörenden, Nerds in verschiedenen Reifegraden.

Der Fluch der Sprichwörtlichkeit: Man kann King-Kenner sein, ohne ein einziges der von ihm – oder der unter seinem wohlklingenden Namen arbeitenden Prosamanufaktur? – erdachten und gedichteten Werke gelesen zu haben. Der King-Wahnsinnige mit Namen Torrance (alias Nicholson) behielt keinesfalls recht. Die hehre Absicht, ein "gutes Buch" von Stephen King zu lesen, konnte man getrost von einem Tag auf den nächsten verschieben.

Prestige des Postboten

Der nachholende, mehrfache Selbstversuch zeitigt ein in Maßen befriedigendes Ergebnis. King liebt die Erzählperspektive Pubertierender, zumal wenn sie Rückschau halten. In dem genannten Reifewerk Später (2021) ist der zehnjährige Sohn einer New Yorker Alleinerzieherin dazu ausersehen, mit frisch Verstorbenen unvermittelt in Kontakt zu treten. Der Bub behält ob seiner fatalen Hellsicht nicht nur die Fassung: Jamie flutet das 300-seitige Buch mit Proben von Altklugheit.

Der jugendliche Held genießt in Stephen Kings Amerika das Prestige eines Postboten. Er fungiert als Überbringer übersinnlicher Nachrichten. Früher, in freudianischeren Tagen, pflegte man fachgerecht über die Wiederkehr des Verdrängten zu sinnieren, über die Nachtseite des amerikanischen Traums.

Um möglichst rasch zum spannungslösenden Ziel zu kommen, muss man King-Werke "verschlingen". In der vorläufigen Verweigerung der Adoleszenz besteht ihr aufschiebender Charakter. Das von ihr geschilderte Amerika bleibt konturschwach und offen: Immerhin muss es gegenüber dem Jenseits anschlussfähig bleiben. In den Beschreibungsdefiziten dieser von atemloser Hast getriebenen Prosa liegt zugleich ein Suchtpotenzial. Ein in der Tat famoser King-Klassiker wie Shining – in der kongenialen Übersetzung von Harro Christensen (1985) – ist vielleicht doch, frei nach Kafka, die Axt für das gefrorene Meer in uns. Obwohl Jack Torrance mit ihr dann auch nur die Badezimmertüre einschlägt. (Ronald Pohl, 21.9.2022)