Zürich 1905. Lipowo 1941. Zwei historische Erzählende lässt der Schweizer Romancier Lukas Hartmann (78) sich aufeinander zubewegen. Sabina Spielrein aus gutbürgerlicher jüdischer Familie, 1885 in Rostow am Don geboren, kommt 1905 als Patientin zu Carl Gustav Jung ins "Burghölzli", das Klinikum bei Zürich.

Die Therapie zieht sich über drei Jahre. In dieser Zeit wandelt sie sich von der Patientin zur Studentin. Nur wenige Jahre später wird sie die erste Frau sein, die in Psychologie promoviert. Sie wird in der Schweiz als Ärztin praktizieren, 1924 in ihre Heimatstadt zurückkehren und dort als Analytikerin arbeiten, 1929 erleben müssen, dass in der Sowjetunion die Psychoanalyse verboten wird, Jahre später, dass ihre Brüder spurlos verschwinden. Schließlich wird sie mit ihren zwei Töchtern Mitte August 1942 von einer Todesschwadron der Nazis erschossen.

Als Fußnote abgetan

In der Geschichte der Psychoanalyse wird sie wie so viele Frauen als "Fußnote" abgetan. Ihre gesammelten Schriften wurden erst 2002 ediert, drei Jahre später erschien eine Biografie Sabine Richebächers. Auch das emotionale Verhältnis zum germanophil-antisemitischen Archetypen-Schöpfer C. G. Jung ist inzwischen ausgeleuchtet.

Eine andere "Fußnote" des 20. Jahrhunderts stellt Fritz Platten dar, ein 1883 geborener Schweizer Sozialist. Ende 1941 sitzt er im Straflager Lipowo in Nordwestrussland. Sozialist. Streikführer. Abgeordneter im Nationalrat, dem Schweizer Parlament. Auswanderer. 1923 dann ausgewandert in die Sowjetunion mit seiner dritten Frau Bertha. 1937 werden beide verhaftet, sie erschossen, er in den Gulag geschickt. Am 22. April 1942, dem Geburtstag Lenins, wird er füsiliert. Zusammen mit Lenin saß er im plombierten Zug, der durch Deutschland via Finnland nach Russland fuhr; allerdings wurde er damals an der finnisch-russischen Grenze des Zuges verwiesen. Und kam erst etwas später, auf Umwegen, nach Petrograd. Das damals noch nicht Leningrad, wie es Hartmann nennt, hieß.

Er hatte mit einigen hundert anderen – darunter keiner mit landwirtschaftlichen Kenntnissen – versucht, eine Kolchose im Nirgendwo aufzubauen. Und somit den Kommunismus. Doch keine zwei Jahre später war das Experiment gescheitert, Platten zog es da schon vor, als Dozent in Moskau zu leben.

Lukas Hartmann, "Ins Unbekannte. Die Geschichte von Sabina und Fritz". € 25,70 / 288 Seiten. Diogenes-Verlag, 2022. Das Buch erscheint am 28. September.
Foto: Diogenes-Verlag

Welt-Terror-Erkenntnis

Hartmann erzählt von Aufbrüchen ins Unbekannte, von Welt- und Ich-Transformation. "Die Welt verändern, sie bewohnbar machen für alle, darum ging es doch", heißt es einmal. Davon erzählt Hartmann, Autor vieler biografischer Romane, plastisch, nah an und in den Figuren. Wieso aber vermochte er mit dem Vorgängerbuch über den Künstler Louis Soutter mehr zu überzeugen als mit diesem Doppelporträt? Zu überschaubar ist der Gehalt an Welt-Terror-Erkenntnis, zu erzwungen die Koppelung zweier Lebensläufe und vor allem bei Spielrein zu unausgewogen das Verhältnis von Feindetails und Raffung. (Alexander Kluy, 25.9.2022)