Sich über Österreich Sorgen machen, sich an Österreich kritisch abarbeiten – das ist eine beliebte Disziplin des seriösen Journalismus. Es gibt aber bei Gott wieder Anlass dazu: die Mittelmäßigkeit der aktuellen Regierung, ja fast der gesamten politischen Klasse; der mit Korruption angereicherte Marsch der türkis-blauen Koalition in Richtung "Orbán light"; die Hilflosigkeit angesichts von Pandemie, Energiekrise und vor allem des von Wladimir Putin angezettelten großen Krieges auf europäischem Boden.

Das gibt uns Stoff für Jahre. Die ersten Aufarbeitungen sind bereits eingetroffen. Zwei bekannte Journalisten liefern in diesem Herbst kritische Analysen zum Zustand unserer Republik.

Paul Lendvai, bereits eine Legende, hat sich über Jahrzehnte mit Außenpolitik befasst, in seinem neuen Band Vielgeprüftes Österreich liefert er einen eher innenpolitisch ausgerichteten "kritischen Befund zur Zeitenwende". Es fällt auf, dass dieser Befund härter, schärfer ausgefallen ist als Lendvais früherer Bestseller Mein Österreich von 2007. Immer noch ist Lendvai, der vor dem Kommunismus aus Ungarn flüchten musste, ein Herzensösterreicher. Aber er lässt auch die grundlegende Problematik nicht aus: die "permanente Selbstbespiegelung zwischen tiefsitzendem Minderwertigkeitsgefühl und maßloser Überschätzung".

Lendvai schlägt den Bogen vom Grundsätzlichen, von der Entstehung eines, trotz allem, erfolgreichen Staatswesens, bis zu den aktuellen Defiziten. Seine dichte Darstellung über "Die Freunde von Putins Russland" weist auf eine katastrophale Fehlentwicklung hin, ebenso das Kapitel "Flirt mit autoritären Nachbarn".

Scharfes Urteil

Für Lendvai ungewöhnlich scharf auch sein Urteil über Sebastian Kurz: Wenn man den mit dem ebenso begabten und beunruhigenden Jörg Haider vergleiche, so "ist der prägnanteste Unterschied: Nichts an Kurz lädt dazu ein, ihn psychoanalysieren zu wollen." Er sei als politische Persönlichkeit ein "Fast-Nichts".

Hier trifft sich Lendvai mit Helmut Brandstätter, dem früheren ORF-Journalisten und Kurier-Chefredakteur, nunmehr Neos-Abgeordneter. Auch er arbeitet sich (ein weiteres Mal) in seinem Buch Heilung für eine verstörte Republik an Kurz ab: "Bei Sebastian Kurz hat man sich immer gefragt, warum er Politiker geworden ist. Große ideologische oder gesellschaftspolitische Pläne wurden nie bekannt."

Brandstätter versucht aber auch eine Therapie. Schon das erste Kapitel beschäftigt sich mit der "Suche nach einem Ausgleich in der Gesellschaft". Man müsse mit dem "Abbau von Frontstellungen" beginnen. Er plädiert dafür, die Einbürgerungen drastisch zu erleichtern, um die wachsende Zahl derer, die hier geboren sind, aber nicht wählen dürfen, zu integrieren. ÖVP und FPÖ sind aber strikt dagegen. Lendvai erwähnt, dass alle Versuche einer Föderalismus- oder Staatsreform bisher gescheitert seien. Trotzdem enden beide, Brandstätter wie Lendvai, auf einer optimistischen Note, wenngleich mit einem bangen Unterton.

Wir gehören noch immer zu den "glücklichsten Generationen, die je hier gelebt haben", sagt Brandstätter. Aber wir müssen künftig mehr dafür tun, dass es so bleibt. Noch immer. Und Lendvai sagte bei der Präsentation des Buches, man müsse eben versuchen, das Beste aus der Situation zu machen, dann werde man überleben. Sehr österreichisch. (Hans Rauscher, 24.9.2022)