Für Nicolas Mathieu, den Träger des Prix Goncourt von 2008, ist das wuchtige Chanson Les lacs du Connemara von Michel Sardou nicht einfach irgendein Lied, sondern der Schlüssel, um Frankreich zu verstehen. Gar nicht das Lied selbst, sondern die Art, wie man es hört: ironisch oder spöttisch wie die Rich Kids an den Business-Schulen in den Zentren, leidenschaftlich oder stolzerfüllt wie die "einfachen Leute" auf dem Land.

Nicolas Mathieu schreibt über ein ungleiches Paar.
Foto: Heribert Corn

"Meiner Ansicht nach ist dieses Lied und damit der Titel ein geeigneter Ort, um den harten Bruch aufzuzeigen, der Frankreich spaltet. (...) Kurz: die Kluft zwischen Groß- und Kleinstädten; zwischen Menschen, die lange studiert haben, und den anderen; die Trennlinie zwischen denen, die sich in der heutigen Welt wohlfühlen (...), und denen, die darunter leiden", erklärt der Autor den Titel seines neuen Romans in einem Interview mit seinem Verlag und fasst damit nicht nur zusammen, für wie wichtig er Les lacs du Connemara einschätzt, sondern auch, wie sein Roman zu verstehen ist: Es handelt sich um den neuesten Zuwachs im französischen Spezialgenre der Klassenunterschiedsliteratur mit soziologischem Einschlag.

Zurück, wo sie herkommt

Dass Mathieu seinen Éribon gelesen hat, merkt man schon am Motiv der Rückkehr: Mathieus Protagonistin Hélène wird dahin zurückverfrachtet, wo sie herkommt: in die ihr verhasste Provinz. Ursprünglich aus Cornécourt, einer kleinen fiktiven Stadt in der Nähe des realen Épinal, stammend (wo auch Mathieu selbst herkommt), war Hélène der Aus- und Aufstieg gelungen: weg von den ungebildeten Eltern, weg aus dem Milieu der Hackler mit ihren Grammatikfehlern und Binsenweisheiten.

Sie machte heiratstechnisch eine gute Partie, Karriere in Paris und bekam zwei Töchter. Und dann stand sie kurz vor dem Burnout. Der Umzug nach Nancy, eine Stunde von Épinal entfernt, wo sie nun in einer modernen Villa wohnt und in einem Consultingunternehmen arbeitet, bringt zwar mehr Ruhe, aber auch mehr Fadesse. Ein sexuelles Abenteuer scheint eine gute Ablenkung zu sein.

Als sie zufälligerweise auf ihren Jugendschwarm, den ehemaligen lokalen Eishockeystar Christophe, trifft, der niemals aus Cornécourt weggezogen ist und sich den Lebensunterhalt als Vertreter für Tierfutter verdient, hat der Topf vorerst seinen Deckel gefunden. Blöderweise handelt es sich um einen Druckkochtopf: Zwar geht alles recht schnell, kann einem aber auch um die Ohren fliegen, wenn man nicht aufpasst.

Effizienzbesessenheit

Mathieu beschränkt sich aber nicht auf die Geschichte der Affäre, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, sondern erzählt, wie Hélène und Christophe aufgewachsen sind, wie sie zu den Menschen wurden, die sie sind. Hélène, die früh die Literatur für sich entdeckte und sich durch Bildung ihr Ticket aus dem Kaff heraus erarbeitete, Christophe, der seinen Höhepunkt eigentlich bereits als Sportler in seiner Jugend erreichte, sich nun um Vater und Sohn kümmert und immer noch mit den damaligen Schulfreunden Bier trinkt.

Nicolas Mathieu, "Connemara".€ 27,50 / 432 Seiten. Hanser-Verlag, Berlin 2022

Die Passagen aus der Jugend erinnern stark an Mathieus zweiten Roman Wie später ihre Kinder und weisen dieselbe Zärtlichkeit und Genauigkeit auf, mit denen sich Mathieu einen Namen gemacht hat. In ihrem Erwachsenenleben geraten ihm seine Protagonisten dagegen etwas schablonenhaft. Auf der einen Seite die frustrierte und abgehärtete Karrierefrau, auf der anderen der liebenswerte Versager. Auch die Nebenfiguren wie der demente Vater Christophes oder Hélènes Digital-Native-Praktikantin füllen zwar aus, was man von ihren Rollen erwartet, bleiben dabei aber eher Typen als Individuen.

Das mag durchaus beabsichtigt sein, weil es Mathieu weniger um das Individuelle geht als um die Probleme, die in einer Beziehung entstehen, wenn die Klassenfrage unterschwellig alles bestimmt.

Ein starker Fokus liegt auch auf der Beschreibung von Hélènes Arbeitsumfeld, einem Consultingunternehmen, in dem nicht nur toxische Männlichkeit floriert, sondern sich mit hohlem Managersprech und bedeutungslosen Phrasen richtig viel Geld verdienen lässt. Mathieu, der den Roman 2017 spielen lässt, als Macron zum ersten Mal für das Amt des französischen Präsidenten kandidierte, bringt diese "Managermentalität" stark mit dem Auftreten von Macrons Partei En Marche in Verbindung.

Den Präsidenten sieht er in seinem Roman kritisch als "ein Wunderkind, wie Frankreich es liebt, einen ehemaligen Banker, makellos im maßgeschneiderten Anzug, ohne Altlasten und Kungeleien, der mit Mozart verglichen wurde und auf nahezu einmalige Weise verkörperte, was diese Zeit ausmachte: Effizienzbesessenheit".

Hier hätte es noch einmal richtig spannend werden können, leider bleiben diese Überlegungen zu einer Politik der Aalglattheit aber nur Randnotizen. Und so wirkt Connemara selbst etwas zu effizient: ein Page-Turner allemal, aber ohne die Schattierungen, die den "feinen Unterschied" ausgemacht hätten. (Amira Ben Saoud, 2.10.2022)