Sie eckt an und zeigt Haltung: Hito Steyerl kritisiert in "Animal Spirits" das gegenwärtige Wirtschaftssystem.

Foto: Kunsthaus Graz/J.J. Kucek

Die Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Eben wandelte man noch am Murufer, plötzlich stolpert man durch diese karge Landschaft im Grazer Kunsthaus. Lediglich kleine Farne und Gräser hängen von der Decke. Langsam zeichnen sich Umrisse meterhoher Videoscreens ab, darauf: bemalte Höhlenwände und Tropfsteine. Ein sich kräuselndes Irrlicht lockt immer tiefer in die felsige Welt.

Vorbereiten auf das, was einem im Inneren der neuesten Arbeit von Hito Steyerl geboten wird, kann man sich nicht. Es zählt zu ihrer Spezialität, mit Videoarbeiten zu überraschen, zu entlarven und zu amüsieren. Die 1966 in München geborene Medienkünstlerin beschäftigt sich mit vernetzter Bildkultur, Utopien und Gefahren des Internets sowie technologischen, historischen und politischen Fragen. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität ist flüssig.

Hier leben Wölfe!

Auf Steinen darf man in dem – für diese Arbeit prädestinierten – Kuppelraum Platz nehmen und die Reise ins Ungewisse antreten. Triggerwarnung: Hier leben Wölfe! Der Werktitel Animal Spirits geht auf den Ökonomen John Maynard Keynes zurück (im Video von Schauspieler Mark Waschke verkörpert), der damit den Einfluss menschlicher Emotionen auf die Märkte beschrieb. Steyerl verknüpft diese Theorie mit der Natur: Wie durch ein Nachtsichtgerät richten sich Fadenkreuze auf Wölfe im tiefen Wald. Jagd oder Shooter-Spiel? Die Musik lässt das Adrenalin steigen, eine Stimme ruft: "Sei der Alpha-Wolf!" Nur die Stärksten überleben.

Das Werk "Animal Spirits" in der Grazer Kunsthalle.
Hito Steyerl, Andrew Kreps Gallery, New York, Esther Schipper, Berlin, und Bildrecht, Wien 2022

Zur aktuellen Diskussion über Wölfe, die in unsere Wälder zurückkehren und Herdentiere reißen, kommen mehrere Personen zu Wort. Hauptprotagonist ist der spanische Schafhirte Nel, der entgegen allen Klischees mit Bart, Tattoos und Youtube-Kanal ausgestattet ist. Dort tritt er als wütender Aktivist auf und warnt vor den Problemtieren: "Wenn der Nebel kommt, gewinnen sie." Er adressiert naive Stadtbewohner, die keine Ahnung von den Gefahren, sondern romantische Vorstellungen haben. Nel nennt das "Disney-Ökologie".

Der Hirte ist real und gehört der spanischen Künstlergruppe Inland an, die sich mit sozialen, kulturellen und landwirtschaftlichen Abläufen beschäftigt. Gemeinsam mit dem Kollektiv stellte Steyerl Animal Spirits knapp drei Wochen lang auf der Documenta 15 aus, die kürzlich zu Ende gegangen ist. Aus Protest gegen die Antisemitismusvorwürfe auf der Weltkunstschau in Kassel sowie den Rückzug des Beraters Meron Mendel ließ die Künstlerin ihre Arbeit abbauen.

Abzug aus Kassel

Die Großausstellung verlor somit eine ihrer bekanntesten Teilnehmerinnen. Eine Aktion, die großes Aufsehen auch in der internationalen Kunstszene erregte. Und kritisch und zugleich ironisch auszulegen ist. Denn es wäre nicht Hito Steyerl, wenn sie einfach lockergelassen hätte. Und so lief das Video den restlichen Sommer in einer Kasseler Videothek. Dem Spiegel sagte Steyerl dazu: "Ich zeige meine Arbeit tausendmal lieber in diesem Kasseler Verein als auf der Documenta 15."

So steht Animal Spirits in vielerlei Hinsicht exemplarisch für das Werk der 56-Jährigen, denn neben Kritik an Umgang mit Ökologie und Ökonomie macht sich Steyerl darin auch über den NFT-Hype in der Kunst lustig. Die dokumentarischen Elemente werden von einer animierten Tiershow gebrochen: ein "fiktionales Kryptospiel", in dem Bären, Wölfe und auch Ziegen in einer Gladiatorenarena gegeneinander antreten. Pro getötetes Tier wird ein NFT (Non-Fungible Token) erstellt. Ein Lieblingsthema der Kritikerin: Den Kryptoboom nannte sie "Blase für Doofe", Kryptokunst bezeichnete sie als "Replikat der hässlichsten Teile der existierenden Kunstwelt, abzüglich der Kunst".

Steyerl gilt als einflussreiche Kommentatorin, die aber auch aneckt. Sie wurde bereits als "most critical artist" bezeichnet und 2017 zur wichtigsten Künstlerin des "Power 100"-Rankings von Art Review gewählt – als allererste Frau. Erst letztes Jahr lehnte die Professorin für Experimentalfilm und Video an der Universität der Künste Berlin die Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz ab. Zu ungerecht sei mit dem Bildungs- und Kulturbereich während der Pandemie umgegangen worden, so ihre Begründung.

Kritik an Deutschland

Die Tochter eines Deutschen und einer Japanerin studierte in Tokio, München und promovierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Lange arbeitete sie für Regisseur Wim Wenders und lebt heute in Berlin. Ihre filmkünstlerischen Arbeiten werden weltweit ausgestellt. Der internationale Durchbruch gelang ihr 2015, als sie mit anderen Künstlern den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig bespielte. Als nationale Vertreterin drehte sie dort den Spieß um und richtete ihre Kritik gegen Deutschland.

Die Realität wird Hito Steyerl sicherlich auch in Zukunft genügend Material liefern. (Katharina Rustler, 3.10.2022)