Die Wiener Philosophin und Publizistin Isolde Charim macht aus den Teilnehmern des neoliberalen Kapitalismus Mitwirkende an einem Schildkrötenrennen: ein bestrickendes Theorie-Design.

Foto: Heribert Corn

Der neoliberale Kapitalismus schneidet jedem, der ihm huldigt, eine besondere Fratze. Es ist die nicht recht ernst zu nehmende des eigenen Gesichts. Der französische Philosoph Blaise Pascal fasste das Verhältnis, in dem man zu sich selbst steht, in eines der Abhängigkeit voneinander. Ihm ging es vornehmlich darum, das Laster der Eitelkeit in die Schranken zu weisen. Sein entsprechender "Gedanke" lautete darum: "Zwei ähnliche Gesichter, von denen keines für sich allein lächerlich wirkt, reizen gemeinsam durch ihre Ähnlichkeit zum Lachen."

Doch nichts könnte ernster sein als die Verpflichtung, die das eigene Selbst für eine gelingende Entfaltung des Ichs darstellt. Isolde Charims neues Buch, Die Qualen des Narzissmus betitelt, weist jeden Anflug von Lächerlichkeit zurück. Kein Grimassenschneiden vor verschmiertem Spiegel, eher schon regiert eine Art von ungläubigem Erstaunen. Wie kann es passieren, dass wir Menschen uns mannigfachen Formen der Despotie, des Zwangs und der Bevormundung aus freien Stücken unterwerfen?

Die Antwort wächst auf dem Mist des jeweiligen Individuums. Nicht nur die Gesetze von Moral und Überlieferung werden von uns verinnerlicht. Wir unterwerfen uns der Instanz des eigenen "Ich-Ideals". Anstatt ein "ozeanisches" Gefühl frühkindlicher Allmacht zu verspüren, messen wir uns und unser Ungenügen ab einem gewissen Lebensalter am Ideal: dem Bild unserer eigenen Vollkommenheit.

Freud und Co

Zur Untermauerung ihrer These bietet Charim die großen Ideengeber der Ich-Bildnerei auf, Jacques Lacan, Louis Althusser und natürlich "Godfather" Sigmund Freud. Der "sekundäre Narzissmus" plagt uns nicht nur. Er verstrickt uns, dem Neoliberalismus sei Dank, in ein permanentes Wettbewerbsgeschehen.

Jener Prozess, der uns zu wertvollen, kauffreudigen, neoliberalen Subjekten macht, ähnelt dem Wettlauf von Achilles und der Schildkröte. Wir sind dazu verdammt, dem Ich-Ideal nachzusetzen. Wir besitzen nur leider nicht die geringste Chance, es – und damit uns selbst – jemals einzuholen.

Die polemische Bedeutung von Charims Buch liegt in seiner Nützlichkeit. Sie kann jetzt die Frage, wie der Neoliberalismus seine Marktteilnehmer wirksam abrichtet, genüsslich beantworten. Seine Ideologen verfehlen ihrer Meinung nach sein Wesen. Sie glauben bloß, alle menschlichen Ressourcen könnten einer Kosten-Nutzen-Relation unterworfen werden. Ebenso ergeht es Erklärungsmustern wie demjenigen des Soziologen Andreas Reckwitz: Sein Bild von der "Gesellschaft der Singularitäten" produziert Besonderheiten.

Lauter Menschen mit Eigenwertigkeiten. Dennoch bedürfen sie unausgesetzt der Bestätigung durch andere. Wie anders aber soll Einzigartigkeit gemessen werden – als durch die Unterscheidung durch andere und von anderen?

Es ist der objektive Narzissmus der permanenten Rankings, der Kontrollen, der den subjektiven Narzissmus in Dienst nimmt. Die Hölle ist nicht, wie bei Sartre, die Vielzahl der anderen, sondern wir bereiten sie uns selbst. Die Zustimmungsprozeduren in den Social Media zeitigen bestenfalls Zwischenergebnisse. Unser "leidenschaftliches Verhaftet-Sein" mit den Verhältnissen treibt uns in die zeitweilige Übertragung des Ich-Ideals. Dann himmeln wir Stars an. Oder feiern Symbiosen, indem wir uns mit den Mitgliedern einer Masse auf Zeit zusammenschließen.

"Angesprochen" werden wir ausschließlich von uns selbst. Die wahre Marter liegt daher in der Totalindividualisierung. Was "Ich" ist, will Partikel sein. Wir lassen uns keine allgemeine Moral mehr vorschreiben, lieber übersetzen wir den "Selbsterwerb" in ein Übungsgeschehen. Auch müssen wir uns nicht mehr die Frage nach der Unterscheidung in "gut" und "böse" stellen. Gut ist, was ich als nicht schlecht für mich empfinde.

Keine natürliche Grenze

Ziel der Prozedur ist ein "Besonderungs"-Wettbewerb. Ausgetragen wird er von uns selbst, mit uns selbst als imaginärem Partner. Charims Konzept der notwendig sich verfehlenden "Selbstidentifikation" kennt kein Innehalten, keine natürliche Grenze.

Jede und jeder muss als vollendet Vereinzelte(r) die Zumutung einer vorschnellen Identifizierung von sich weisen. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Der Anpassungsdruck unserer Tage besteht nicht etwa darin, anders sein zu wollen. Wir müssen, im Gegenteil, immer schon anders geworden sein, um mit uns selbst überhaupt (noch) Schritt zu halten.

Vielleicht wäre, als Nächstes, die Gesellschaftlichkeit unseres Zusammenlebens grundsätzlich neu zu überdenken. Wie sonst wäre unser kommunikatives Zusammenwirken in hochkomplexen Gesellschaften zu verstehen? Isolde Charim hat, so scheint’s, gerade erst begonnen, eine hinreichend aussagekräftige Theorie unseres Zusammenlebens zu entwerfen. Mitunter blicken wir in den Spiegel. Und gewahren, oh Wunder, ein wirkliches Gegenüber: etwa durch frisch geputztes Fensterglas. (Ronald Pohl, 4.10.2022)