Der Anschlag auf seine Tochter habe deren und seinen Glauben an Bildung verstärkt, sagt Ziauddin Yousafzai.

Foto: Christian Fischer

Wenn die Familie Yousafzai heute fernsieht, dann läuft das anders ab als früher. Immer wenn eine Person mit Pistole in der Hand auf dem Bildschirm erscheint, steht Mutter Toor Pekai auf und geht. Und ist eine Explosion zu hören, dann erschrickt sie. Ihrem Mann Ziauddin geht es ähnlich. Der Grund dafür ist im 9. Oktober 2012 zu suchen.

An diesem Tag stoppten Anhänger der Terrorgruppe Taliban im Norden Pakistans einen Schulbus, der gerade mehrere Mädchen vom Unterricht nach Hause fuhr. Darunter: Malala, die damals 15-jährige Tochter des Ehepaars Yousafzai, heute weltbekannte Friedensnobelpreisträgerin und UN-Botschafterin. Ihr hielt einer der Kämpfer einen 45er-Colt an die linke Seite ihres Kopfes – und drückte ab. Doch Malala überlebte.

In den fast genau zehn Jahren, die seither vergangenen sind, hat sich bei den Yousafzais viel getan. Die Familie hat ihre Heimat, das pakistanische Swat-Tal, verlassen und sich im englischen Birmingham ein neues Leben aufgebaut. Vor kurzem besuchte Ziauddin Yousafzai, mit dem Malalas Werdegang eng verknüpft ist, Wien. "Das Trauma des Anschlags ist immer präsent", erzählt er dem STANDARD bei dieser Gelegenheit. Und er nimmt sich Zeit für einen Rückblick – mit durchaus kritischen Untertönen.

"Habe Malala nicht gestoppt"

Ziauddin, der 1969 in Pakistan zur Welt kam, ist ausgebildeter Lehrer. Im Jahr 1994 gründete er im Swat-Tal eine Schule, seit Jahren engagiert er sich als Bildungsaktivist. 1997 kam Malala zur Welt. Das Aktivistendasein schaute sie sich früh von ihrem Vater ab. Es begann mit einem Blog bei der BBC: Dort berichtete Malala bereits als Elfjährige über das eingeschränkte Leben in Pakistan unter den Taliban.

Die Terrorgruppe hatte das Swat-Tal im Jahr 2007 unter ihre Kontrolle gebracht, rund zwei Jahre später eroberte die Armee das Gebiet wieder zurück. Während der Taliban-Herrschaft wurden Schulen für Mädchen geschlossen, Malala nahm dennoch weiter am Unterricht teil.

Ziauddin Yousafzai besuchte vor kurzem auf Einladung der Bildungsinitiative Teach for Austria die Mittelschule am Enkplatz in Simmering. Die Schulkinder haben Plakate über Malala gebastelt.
Foto: Christian Fischer

Eingefädelt hatte den BBC-Blog Ziauddin. Das Problem daran: Malalas Pseudonym wurde letztlich gelüftet. Das Mädchen entwickelte sich immer mehr zur Symbolfigur im Kampf für Kinderrechte. Und zwar unter großem, womöglich zu großem Zutun ihres Vaters, wie kritische Stimmen sagen. Ob er sich jemals Vorwürfe gemacht habe, Malala weniger hätte exponieren dürfen? "Ich habe sie nie gedrängt. Als Tochter eines Bildungsaktivisten war es nur natürlich für Malala, dass sie ihre Stimme erhoben hat", sagt Ziauddin. "Die Taliban hatten Angst vor ihrer Stimme."

Richtig sei aber auch, dass er sie nicht gestoppt habe. "Die Kugel galt eigentlich mir. Ich war das eigentliche Ziel der Taliban. Malala hat meine Kugel genommen." Nach dem Anschlag habe er sehr wohl darüber nachgedacht, ob er anders hätte agieren sollen. Er habe sich dann an den Rat seiner Frau gehalten, diesen Gedanken zu verwerfen. "Sie sagte: 'Du hast dich für das Recht auf Frieden und Bildung eingesetzt. Die Leute, die Malala attackierten, sollten sich schämen. Bitte bereue du nichts.'"

Ein Preis als Katalysator

Letztlich habe der Anschlag Malalas und seinen Glauben an Bildung vertieft, sagt Ziauddin. Und ihren Einsatz und Aktivismus verstärkt: "Die größte Chance, die Malalas Überleben gebracht hat, war, für Bildung zu arbeiten", sagt Ziauddin. 2013 gründeten seine Tochter und er den Malala Fund, eine Stiftung, die nach eigenen Angaben "für eine Welt arbeitet, in der jedes Mädchen lernen und führen kann". Laut Ziauddin ist die Initiative mittlerweile in zehn Ländern aktiv.

Malala hält die Medaille bei der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo im Dezember 2014 hoch.
Foto: AP/Cornelius Pope

Der vorläufige Höhepunkt ihrer Engagements jährt sich dieser Tage ebenfalls. Am 10. Oktober 2014 wurde bekannt, dass Malala und der indische Kinderrechtsaktivist Kailash Satyarthi für den Friedensnobelpreis nominiert wurden. Zwei Monate später fand die Verleihung in Oslo statt: Die damals 17-Jährige Malala wurde zur jüngsten Preisträgerin in der Geschichte der hochdotierten und prestigeträchtigen Auszeichnung.

Das sei wie ein Katalysator gewesen, erzählt Ziauddin. "Malala hat den Preis als Motorrad beschrieben, das sie beschleunigt." Trotz des Trubels sei seine Tochter bescheiden und fokussiert geblieben, betont er. "Sie ist glücklich, dass sie den Nobelpreis gewonnen hat. Aber sie ist noch glücklicher, wenn über den Malala Fund in Afghanistan Lehrerinnen ausgebildet werden können."

Situation in Pakistan angespannt

Malala selbst hat ihre Ausbildung mittlerweile zu Ende gebracht. Sie hatte in Oxford Politik, Wirtschaft und Philosophie studiert und dies im November 2021 abgeschlossen. Im selben Monat gab sie ihre Vermählung mit ihrem Mann Asser bekannt. "Es ist ein respektvoller Schwiegersohn, von dem man nur träumen kann", sagt Ziauddin. Im Vereinigten Königreich fühle sich die Familie sicher.

Die Arbeiten der Schülerinnen und Schüler der Mittelschule Enkplatz über Malala Yousafzai.
Foto: Christian Fischer

Seit die Yousafzais ihre Heimat verlassen haben, sind sie zwischendurch einmal für einen Besuch nach Pakistan zurückgekehrt. "2018 waren wir drei Tage dort", erzählt Ziauddin. Möglich gewesen sei das nur unter Sicherheitsvorkehrungen gewesen, er habe sich aber gleich "ganz nostalgisch" gefühlt.

Mittlerweile habe sich die Situation in Pakistan verschlimmert. Seit Mitte Juni macht das Land eine schlimme Flutkatastrophe durch. Hunderte Städte und Dörfer wurden durch die steigenden Wassermassen von der Außenwelt abgeschnitten. Zwischenzeitlich stand ein Drittel des Landes unter Wasser. Nun droht eine Gesundheitskatastrophe durch Infektionskrankheiten.

Ziauddin Yousafzai ist angesichts der aktuellen Lage in Pakistan besorgt – und fordert die Staatengemeinschaft zum Handeln auf.
Foto: Christian Fischer

Dazu kommen beunruhigende Meldungen aus dem Grenzgebiet zu Afghanistan vom Sommer. Im Nachbarland haben die Taliban die Macht übernommen, in Pakistan gingen Demonstrantinnen und Demonstranten im August gegen das Erstarken der militant islamistischen Organisation auf die Straße. Auch in der Region Swat wurde protestiert. "Die Taliban sammeln sich und reorganisieren sich. Es ist wieder schrecklich", sagt Ziauddin.

Er appelliert an die internationale Staatengemeinschaft, Druck aufzubauen. Selbst kleine Länder wie Österreich könnten etwas erreichen, ist er überzeugt. Jede einzelne Stimme zähle. Das habe nicht zuletzt seine Tochter gezeigt. (Stefanie Rachbauer, 10.10.2022)