Die Datenlage zu geschlechtsspezifischer Gewalt ist in dünn.

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Die Zahlen sind auch in diesem Jahr beklemmend: Durchschnittlich drei Frauen pro Monat wurden bisher von Menschen in ihrem nahen Umfeld, vom Partner oder Ex-Partner, getötet. Darunter finden sich auffallend viele Fälle von Tötungen mit anschließendem Suizid. Erst Ende August fand ein Mann in Neulengbach in Niederösterreich ein junges Paar tot in seiner Wohnung auf. Ein 22-Jähriger soll seine zwei Jahre jüngere Freundin erstochen und sich anschließend selbst getötet haben. Die Polizei gehe von einem "erweiterten Suizid" aus, berichtete der ORF Niederösterreich online.

Depressive Erkrankungen

Ein Begriff, der häufig unscharf verwendet werde, sagt Psychiaterin Heidi Kastner auf STANDARD-Anfrage. Doch forensisch sei der "erweiterte Suizid" klar definiert. "Das zentrale Element ist, dass immer zuerst der Entschluss fällt, sich selbst zu töten. Erst in zweiter Linie wird eine andere Person miteinbezogen – und diese Person wird als abhängig erlebt", sagt Kastner. Die Psychiaterin nennt als Beispiel Mütter, die Suizid begehen und zuvor auch ihre eigenen, meist noch sehr jungen Kinder töten. Aufgrund einer depressiven Erkrankung würden sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich das Leben zu nehmen. Darüber hinaus seien sie aber auch überzeugt davon, dass ihr Kind ohne sie verloren sei. Expert:innen betonen aber grundsätzlich, dass jeder Suizid auf eine Vielzahl von Ursachen zurückzuführen sei.

"Eine Depression verändert die Wahrnehmung und das Denken. Die Täter:innen meinen, ihr Tun sei ein Akt der Barmherzigkeit. Sie würden also andere nicht sich selbst und dem wahrgenommen Elend überlassen", sagt Kastner. Ein erweiterter Suizid sei insgesamt die "häufigste forensische Komplikation" bei depressiven Erkrankungen.

Doch nicht nur in Eltern-Kind-Beziehungen, auch bei älteren Paaren kommen erweiterte Suizide vor – insbesondere dann, wenn eine Person die andere pflegt.

Klar abzugrenzen davon ist der Doppelsuizid: In diesem seltenen Fall treffen zwei Menschen einvernehmlich die Übereinkunft, gemeinsam zu sterben.

Geschlechtsbezogene Analysen fehlen

Ganz anders der erweiterte Mord, wo überwiegend Männer die Täter sind. "In diesem Fall ist oft eine erlebte Kränkung das Motiv. Ein Mann tötet zum Beispiel seine Partnerin, weil diese ihn verlassen hat. Das ist dann die Bestrafung", sagt Kastner. Anschließend begehe der Täter Suizid, um dem Gefängnis zu entgehen oder weil er das Leben unter diesen Umständen nicht mehr als lebenswert empfinde.

Wie die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, wurden im vergangenen Jahr 29 Frauen getötet. In sechs Fällen verübte der Tatverdächtige auch Suizid mit einer Schusswaffe. Da der "erweiterte Suizid" kein strafrechtlicher Maßstab ist, findet er auch keinen Eingang in kriminalpolizeiliche Analysen.

Die Datenlage zu geschlechtsspezifischer Gewalt sei in Österreich generell dünn, kritisiert indes Isabel Haider. Das erschwere letztendlich zielgerichtete Gewaltprävention. Im Rahmen einer Studie zur Mordkriminalität mit Schwerpunkt auf Femiziden hat die Rechtswissenschafterin Fälle polizeilich eingestufter Morde und Mordversuche mit weiblichen Opfern auf ihre Geschlechtsbezogenheit hin untersucht.

Separat untersucht wurden dabei auch vier Fälle erweiterter Suizide – Intimbeziehungstaten, in denen Täter und Opfer über 65 Jahre alt waren und schwere Erkrankungen vorlagen. International existieren wenige Studien zu Morden-Suiziden durch pflegende Angehörige, so Haider in der "Juristenzeitung". Eine Analyse geschlechtsspezifischer Faktoren, wie sie von einzelnen Autor:innen diskutiert wird, sei jedoch in jedem Fall von Relevanz. So könne die geschlechtsspezifische Sozialisation Männer dieser Generation etwa eher daran hindern, Unterstützung zu suchen. Auch könne sich der Mann in einer patriarchalen Logik als Oberhaupt der Familie sehen, der über das Schicksal der Frau zu entscheiden habe.

Umstrittener Begriff

Der Begriff des "erweiterten Suizids" ist indes keineswegs unumstritten – gerade in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Birgitt Haller, wissenschaftliche Leiterin am Institut für Konfliktforschung, lehnt ihn gänzlich ab. "Wenn ich die Opfer ernst nehme, kann es keinen erweiterten Suizid geben. Schließlich tötet jemand eine andere Person", sagt Haller. Der Begriff würde Gewalttaten schönfärben, so Haller – ebenso wie das "Familiendrama", von dem oft die Rede sei, wenn Männer ihre (Ex-)Partnerinnen ermorden. In der Schweiz wurde "erweiterter Selbstmord" 2006 gar zum "Unwort des Jahres" gewählt. Hintergrund war die Ermordung der Schweizer Skirennläuferin Corinne Rey-Bellet. Rey-Bellets Ehemann tötete sie und ihren jüngeren Bruder mit einer Schusswaffe, seine Schwiegermutter verletzte er mit mehreren Schüssen schwer. Zwei Tage später beging er Suizid. Kurz zuvor hatte sich Corinne Rey-Bellet von ihrem Mann getrennt.

Auch Thomas Kapitany, Psychiater und ärztlicher Leiter des Wiener Kriseninterventionszentrums, plädiert für eine exakte Abgrenzung der Begrifflichkeiten. "Und auch in Fällen von erweiterten Suiziden müssen wir natürlich darüber sprechen, dass etwa eine Mutter ihre Kinder ermordet", so Kapitany im STANDARD-Interview. Psychologisch betrachtet würden Kinder dann als Erweiterung der eigenen Person erlebt. "Dennoch entscheidet der Täter oder die Täterin für eine andere Person, dass sie sterben muss. Und das steht niemandem zu."

Daten für die Gewaltprävention

Involvierte Personen würden häufig nicht rechtzeitig Hilfe holen, ist Kapitany überzeugt. "Wir wissen, dass insbesondere Männer sich schwertun, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Männer sind wesentlich schwieriger zu erreichen." Aber auch für Frauen in problematischen Partnerschaften müssten Unterstützungsangebote deutlich ausgebaut werden – ebenso zentral seien Schutzeinrichtungen im Akutfall, so Kapitany.

Umfangreiches – und geschlechtsspezifisches – Wissen kann für die Gewaltprävention nur von Gewinn sein, so das zentrale Fazit von Isabel Haider. Rund 57 Prozent der Morde und Mordversuche im Untersuchungszeitraum von Jänner 2018 bis 2019 waren als (potenziell) geschlechtsbezogene Gewalt einzustufen, so das Ergebnis ihrer Analyse. "Diese Fälle unter dem Femizid-Konzept zu erfassen und zu behandeln würde die strukturellen Gemeinsamkeiten dieser Form von Gewalt gegen Frauen darstellen und uns dabei unterstützen, sie in Zukunft besser verstehen und verhindern zu können", schreibt Haider. (Brigitte Theißl, 3.10.2022)