Widerstreitende Interessen treffen im neuen Roman auf engagierte Bürokraten. Robert Menasse (68) denkt aber auch abseits seiner Romane über Europa nach.

Foto: Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag

Der Helm des Skanderbeg liegt in der Rüstkammer im Wiener Weltmuseum. Er gehörte einst dem albanischen Nationalhelden Georg Castriota (1405-1468).

Foto: Kunsthistorisches Museum Wien, Hofjagd- und Rüstkammer

Vor dem Helm des Skanderbeg, des albanischen Feldherrn und Verteidigers Osteuropas gegen die Osmanen aus dem 15. Jahrhundert, in der Rüstkammer des Wiener Weltmuseums, herrscht ein Kommen und Gehen. Ein bildungsbürgerlicher deutscher Professor will ihn sehen, weil er Vivaldis gleichnamige Oper schätzt. Ein Ex-BBC-Journalist erinnert sich an ein Denkmal des Helden in London, eine römische Musikstudentin kennt ein solches Monument aus ihrer Heimat. Und der Saaldiener Tommy? Findet nicht, dass der Helm und all die anderen, Jahrhunderte europäischer Geschichte bezeugenden Objekte an sich etwas "erzählen", wie der Ausstellungskatalog behauptet. Sondern jemand müsse es tun, indem er sie erklärt.

Alle diese Figuren spielen im weiteren Verlauf von Robert Menasses neuem Roman Die Erweiterung keine Rolle mehr. Sie illustrieren aber zwei programmatische Gedanken des Buches. Einerseits: Europa ist aufgrund seiner langen, verflochtenen Geschichte auch nur ein Dorf. Zweitens: Nichts ist klar, sondern alles eine Frage von Absichten, Definitionen, Perspektive. Das prägt die 650 Seiten.

Offenes Veto, verdeckter Gegner

Die Erweiterung ist der Nachfolger von Menasses 2017 erschienenem, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetem Erfolgsroman Die Hauptstadt über das politische und bürokratische Gebilde "Europa". Für das Buch war Menasse nach Brüssel gezogen, hatte sich dort mit EU-Personal angefreundet, mit den Apparaten und Institutionen der Union vertraut gemacht. Fünf Jahre später haben diese mit nicht weniger Problemen zu kämpfen.

In Tirana erwartet der albanische Ministerpräsident "ZK" entnervt den Beitritt seines Landes zur EU. Er hat Reformen auf den Weg gebracht, die Bevölkerung ist für den Schritt. Frankreich legt allerdings offen sein Veto ein, Polen hat hinter den Kulissen kein Interesse an einer Mitgliedschaft des wirtschaftlich für die eigenen Geschäfte uninteressanten, mehrheitlich muslimischen, nur am Subventionskuchen mitnaschenden "Winzlings".

Das bereitet in Brüssel dem in der Generaldirektion für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung tätigen Adam Kopfzerbrechen. Polens Verweigerung trifft ihn zudem persönlich: Der amtierende polnische Ministerpräsident ist ein Kindheitsfreund von ihm, später waren sie beide Untergrundkämpfer für die Freiheit und gegen das kommunistische Regime. Doch nun ist er nicht nur antieuropäisch, sondern zudem rechts, gegen Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz.

Die Rädchen greifen ineinander

Auch Karl Auer, österreichischer Beamter mit Idealismus in der Generaldirektion NEAR für Nachbarschaft und Erweiterung, treibt die polnische Blockade beruflich um. Immerhin gibt es für ihn privat glückliche Nachrichten aus Albanien: Er hat sich in die Regierungsabgeordnete Baia Muniq verliebt. Könnte er sich vorstellen, mit ihr Kinder zu haben? Durchaus. Das ist noch nicht das ganze Menasse’sche Personal. Um es aber kurz zu machen: Die Rädchen greifen ineinander wie ein Uhrwerk. Man fühlt sich in dieser Erzählung augenblicklich wohl. Die vielen Figuren sind sympathisch, der Plot ist rasant und würde sich absolut für Netflix eignen. Die Szenen gelingen plastisch und lebhaft, die Sätze klar.

Um Bewegung in den Beitrittsprozess zu bringen, heckt der Dichter und Berater des ZK einen Plan aus: Er will die EU erpressen, indem er seinen Chef mit dem Helm Skanderbegs symbolisch zum Herrn aller über den Balkan verstreuten Albaner krönt. Er fordert den in Wien ausgestellten Helm offiziell zurück. Weil eine Rückgabe aber nicht realistisch ist, wird im Geheimen die Fertigung einer Kopie in Auftrag gegeben. Eines führt zum anderen, und als der Wiener Helm gestohlen wird, kommen die österreichischen Behörden ins Spiel. Da wiehert der Amtsschimmel, dort tönt es nationalistisch. Sätze wie "Wir halten Kurs, und über das genaue Ziel einigen wir uns später" (über Kompromisse) klingen wie aus einem surrealistischen Bürokratenhandbuch. Witz hat Menasse (68), ohne ihn zu forcieren, auch sonst.

Große Gegensätze, handliche Figuren

Der österreichische Autor, der sich in den letzten Jahren auch essayistisch und aktivistisch ("Europäische Republik") mit der EU beschäftigt hat und als Neudenker der Union aufgetreten ist, füllt große Gegensätze in handliche Figuren. Akute Entzündungen des Kontinents vermag er ebenso wie tieferliegende Nerven begreifbar zu machen. Die Erweiterung ist komplex und übersichtlich in einem.

Dass Menasse die Backmischung aus bürokratischem i-Tüpfel-Reiten, neuen nationalen Befindlichkeiten und dem Geist der Geschichte mit anderem Länderschwerpunkt in der Hauptstadt schon einmal angerührt hat? Kann man ihm nachsehen, insofern Europa in jedem Winkel andere Eigenheiten und Konflikte bereithält und er sich auch diesmal tief in die Geschichte (Albaniens seit Enver Hoxha) eingearbeitet hat. Das hat Reiz, bis im letzten Drittel die Fäden locker werden. Die Mätzchen des EU-Apparats, in Die Hauptstadt eine Sensation für sich, wirken beim zweiten Mal schon etwas durchdekliniert. (Michael Wurmitzer, 8.10.2022)