Joe Strummer ist tot, aber nicht vergessen. Seine Offenheit als Musiker und Mensch manifestiert sich in einem üppigen Box-Set.

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Mit dem Tod ist nicht zu verhandeln. Wenn er will, kommt er. Sein Timing ist willkürlich, dafür gibt es unzählige Beispiele, eines wäre Joe Strummer. Der ehemalige Sänger von The Clash war 50, als ihm der Sensenmann einen angeborenen Herzfehler in Rechnung stellte. Das ist im Dezember 20 Jahre her, im August wäre er 70 geworden.

Joe Strummer war eine Art Volksheld, der kurz vor seinem Tod, nach Jahren des Herumdümpelns, ins Musikbusiness zurückgekehrt war – und auf dem zweiten Höhepunkt seiner Karriere abtreten musste. Damals unterhielt er die Band The Mescaleros. Drei Alben hat er mit ihr veröffentlicht, das dritte, Streetcore, erschien 2003 posthum. Wenn der Spruch "Leaving on a high note" je zutraf, dann auf dieses Album und auf diesen Mann.

Hellcat Records

Das nun zwischen Strummers 70. Geburtstag und 20. Todestag erschienene Box-Set Joe Strummer & The Mescaleros 1999–2002 präsentiert auf vier CDs oder sieben LPs sein Spätwerk neu. Es verteilt die ersten beiden Mescaleros-Alben auf je zwei LPs und bietet auf zwei weiteren unveröffentlichte Songs und Demos, ein fettes Buch begleitet.

Wirkmacht!

Zum Volkshelden und Weltstar wurde der als John Graham Mellor in Ankara geborene Sänger der Clash mit Songs wie London Calling, Rock the Casbah oder Should I Stay or Should I Go.

Punk war Strummer zwar als Haltung wichtig, musikalisch war ihm und der Band das Genre jedoch bald zu eng. The Clash öffneten sich anderen Stilen. Ihr Dreifachalbum Sandinista! aus dem Jahr 1980 nahm Einflüsse von Dub, Reggae, Jazz, Funk, Disco und Rap herein. Das Werk war allein angesichts seiner Dichte und Länge nicht so erfolgreich wie sein Vorgänger London Calling, doch über die Jahre erkannte das Publikum dessen Wirkmacht.

Im Trockendock

The Clash existierten von 1976 bis 1986 — dann zerbrach die Band, und Strummer verlor zusehends an Boden. Zwar galt er als lebende Legende und veröffentlichte 1989 das Soloalbum Earthquake Weather. Ansonsten reduzierte sich sein Output in den folgenden Jahren auf Kollaborationen und Gastspiele: als Sänger bei den Pogues, wenn deren Frontmann Shane McGowan wieder einmal unpässlich war. Er trat in Filmen von Alex Cox (Straight to Hell), Jim Jarmusch (Mystery Train) oder Aki Kaurismäki auf (I Hired a Contract Killer), doch erst mit den Mescaleros wurde er auch musikalisch wieder relevant.

Das Comeback-Album Rock Art and the X-Ray Style (1999) dokumentierte seine ungebrochene Qualität. Er klingt wie ein Fisch, frisch zurück im Wasser, nach Jahren im Trockendock. Mit den Mescaleros nahm er Elektronik und Turntablism herein und produzierte eine Reihe potenzieller Hits und Ohrwürmer – schloss gewissermaßen dort an, wo er mit The Clash aufgehört hatte.

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Wie deren Musik zeigt jene der Mescaleros, was der Welt vorenthalten geblieben wäre, würde sich die Kunst jenen Torheiten beugen, die heute manche veranlasst, nach dem Identitätsausweis zu rufen, weil jemand Reggae spielt, der den Schablonen des eigenen kleinen Denkens nicht entspricht. Unwohl könnt’ einem werden.

Falsche Lehrmeisterei

Strummers Erbe ist ein Gegenentwurf zu solcher Lehrmeisterei. Als Linker verstand er sich stets als Verbündeter aller Benachteiligten. Ob das jamaikanische Einwanderer in England oder Freiheitskämpfer in Mittelamerika waren – er unterstützte sie, präsentierte ihre Vertreter und Kultur, ohne bei der Dreadlock-Polizei um Erlaubnis zu fragen. Und die von ihm dergestalt umarmte Kunst und ihre Protagonisten fühlten sich geehrt. Ein Weltstar stellte sich in den Dienst ihrer Sache, nicht aus Eitelkeit, sondern aus Haltung, und schuf aus seiner Begeisterung eine Begeisterung bei anderen.

Joe Strummer Official

Strummer lebte nach Vorbildern wie Martin Luther King, der wusste, dass man sich um alle Armen kümmern müsse, wenn man den Rassismus ausrotten wollte. Er hatte das große Ganze im Blick, nicht das kleine und karierte.

In Rick Rubins Garage

Deshalb saß Strummer um die Jahrtausendwende mit großer Selbstverständlichkeit in Rick Rubins Nobelgarage und übte Bob Marleys Redemption Song, den er mit Johnny Cash zusammen aufnahm. Auf dem finalen Mescaleros-Album Streetcore ist die Garagenversion ein stiller Höhepunkt, der neben den Gassenhauern ein Maß für die Qualität dieser Alben ist.

Der einzige Wermutstropfen an diesem Box-Set ist die Gewissheit, dass da nichts mehr nachkommt. Der Tod ist ein Sauhund. (Karl Fluch, 11.10.2022)