Er ist das Kleidungsstück für Krisenzeiten. Der Rollkragenpullover ist ein verlässlicher Partner – vor allem wenn es ungemütlich wird. Das hochgeschlossene Oberteil mit dem umgeschlagenen Kragen hält warm und weiß seinen Trägerinnen und Trägern wie kaum ein anderes Kleidungsstück zu vermitteln: "Ich bin bei dir." Kurz gesagt: In Zeiten wie diesen können wir einen wie ihn nur zu gut gebrauchen. Lässt sich eine ausgekühlte Wohnung in einem Rollkragenpullover nicht um einiges eleganter als mit einer Decke über den Schultern ertragen?

Es sieht ganz danach aus, als erfahre der Rolli gerade eine besondere Wertschätzung. Oder, anders gesagt: Was in der Pandemie die Jogginghose, ist in der Energiekrise der Rollkragenpullover. Der deutsche Designer Michael Michalsky prognostizierte unlängst, warme Pullis würden heuer "ein Modehit im Wohnzimmer". Auch die Modenation Frankreich hat das schon erkannt. Oder, besser: Die Regierung im Élysée-Palast ist dieser Ansicht. Sie geht mit einer modischen Energiesparkampagne in die Offensive.

Vive le Rolli!

Einer der vielen prominenten Fans des Rollkragenpullovers war der Künstler Andy Warhol.
Foto: imago images/glasshouseimages

Finanzminister Bruno Le Maire legte Schlips und Kragen ab und verkündete: "Sie werden mich nicht mehr mit einer Krawatte sehen, sondern mit einem Rollkragenpullover." Bei dieser Androhung blieb es nicht. Als Emmanuel Macron in der vergangenen Woche mit Olaf Scholz zu einem Abendessen zusammentraf, präsentierte er sich als vorbildlicher Energiesparmeister. Der 44-Jährige trug unter dem Sakko einen blauen Rollkragenpullover, getreu dem Motto: So schaffen wir das!

Die Verwandlung des französischen Präsidenten in einen missionierenden Existenzialisten im Rollkragenpullover überraschte kaum. Wenn einer weiß, wie mithilfe von Mode politische Botschaften unters Volk gebracht werden, dann Macron. Und wenn einer um ihre Vergänglichkeit weiß, dann ebenfalls der französische Staatschef. Noch im Frühjahr hatte er mit weit aufgeknöpftem Hemd, sichtbarem Brusthaar und einem Hoodie Wahlkampf gemacht.

Blöderweise verstehen die Franzosen und Französinnen die Vorschläge der Regierung als elende Bevormundung. Das ist auch irgendwie verständlich: Wer, wenn nicht sie, hält dem Pullover schon eine halbe Ewigkeit die Stange, man denke an Juliette Gréco! Aber auch Gloria Steinem, Dorothy Pitman Hughes, Steve Jobs, Andy Warhol waren Fans. Sie führen vor: Der Rolli ist für alle da, und ja, jetzt erst recht. (Anne Feldkamp, 11.10.2022)