Jamena James Allen blickt minutenlang schweigend durch sein Fernglas und lässt den Blick langsam über die Felswand wandern. Mit dem bloßen Auge ist auf der gegenüberliegenden Bergseite nur eine Ansammlung weißer Punkte zu erkennen, die hoch über dem Kluane-See wie eine entlaufene Schafherde anmutet. "Dall-Schafe", sagt der 75-Jährige und lächelt, "es sind mehr als sonst." Die schneeweißen Verwandten der europäischen Mufflons mit den eindrucksvoll gedrehten Hörnern leben nur hier im Nordwesten Kanadas und jenseits der ewig schneebedeckten Eliaskette in Alaska. "Hier oben haben unsere Vorfahren sie seit Jahrhunderten gejagt", sagt der Urgroßvater, "genauso wie die Wölfe, die den Schafen hier nachstellen."

Der Kluane-Nationalpark ist heute ein Sehnsuchtsziel für Abenteurer aus aller Welt. In der Nähe der Grenze zu Alaska sind die Berge höher als irgendwo sonst in Kanada.
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Vor der atemraubenden Kulisse des Kluane-Nationalparks im Yukon hat Allen schon vielen über sein Volk, die Champagne and Aishihik First Nations, und sein Land erzählt: Jugendlichen seiner und anderer First Nations – so werden die indigenen Völker Kanadas bezeichnet – und immer mehr Touristen von überall her. In Allens rustikalen Blockhütten ohne Warmwasser und WLAN können sie mit Blick auf die verschneiten Gipfel hinter dem Kluane-See eine Auszeit in der Wildnis nehmen. Dabei lernen sie auch viel über das Volk der Tutchone, für das diese Weltabgeschiedenheit seit unzähligen Generationen Heimat ist.

Allen verbrachte seine Kindheit nicht weit vom Kluane-Nationalpark, heute ein Sehnsuchtsziel für Abenteurer aus aller Welt. In der Nähe der Grenze zu Alaska sind die Berge höher als irgendwo sonst in Kanada. Mit 5959 Metern ist der Mount Logan der höchste von unzähligen Gipfeln, die aus dem mächtigsten Eisfeld außerhalb der Polregionen ragen. "Meine Mutter ist hier noch fast ohne Kontakt nach außen aufgewachsen", erzählt er.

Der Youkon-Fluss gibt auch der Großregion in äußersten Nordwesten Kanadas den Namen.
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Der alte Mann in der schwarz-roten Allwetterjacke zeigt ein Malbuch, das sein Volk für die nachgeborene Generation herausgebracht hat. Auf einer der Seiten ist ein Lastwagen zu sehen, der auf seiner Ladefläche acht Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu einem Steinhaus bringt. Davor wartet eine Nonne auf sie.

Noch bis in die 1990er-Jahre wurden in Kanada Kinder aus indigenen Familien in Umerziehungsinternate gebracht. Etwa 150.000 Kinder der First Nations, Métis und Inuit wurden in über 130 Residential Schools umerzogen, ausgebeutet und missbraucht. Über die Entdeckung von 215 Kinderleichen auf dem Gelände des Internats von Kamloops in British Columbia wurde im letzten Jahr weltweit berichtet. Historiker gehen inzwischen von bis zu 6000 Kindern aus, die durch Krankheiten, Unterernährung und Misshandlung ihr Leben verloren haben und in anonymen Gräbern verscharrt wurden.

"Als ich sieben war, haben sie meinen Bruder, meine Schwester und mich abgeholt", erzählt Allen. Ziel des Transporters war die mehr als 200 Kilometer entfernte Choutla Residential School in Carcross ganz im Süden von Yukon. Sie wurde von der anglikanischen Kirche geführt. Für Allens Eltern waren ihre Kinder damit in eine unerreichbare Ferne verschleppt. "Uns wurden am ersten Tag die Haare geschoren. Sie hatten Angst, dass wir Läuse ins Internat bringen", erinnert sich Allen. "In der Nacht hörte man die Kinder weinen und nach ihren Müttern rufen."

Die Internatsschüler durften einzig Englisch oder Französisch sprechen. "Sie wollten den Indianer in uns austreiben", sagt Allen. Die Internate wurden größtenteils von katholischen und protestantischen Kirchen betrieben und von der kanadischen Regierung verwaltet. Die letzte Schule wurde erst 1997 geschlossen.

Herbstliche Farbenpracht

Mit seinem Geländewagen fährt Allen entlang des Seeufers durch eine Landschaft, deren Farbenpracht im Herbst die Sinne betört. Die Gelb-, Orange- und Rottöne der Balsam- und Zitterpappeln vor dem Anthrazitblau des Sees und den ersten schneebedeckten Gipfeln blenden die Augen. Er liebt es, Gästen sein Land zu zeigen. "Vor kurzem habe ich hier noch mehrere Bisons gesehen", sagt er beim Überqueren einer Lichtung auf einem Hügel. Die Wildrinder waren einst von weißen Jägern ausgerottet und Ende der 1980er-Jahre erneut angesiedelt worden. Inzwischen leben hier wieder einige Hundert.

Sein Wilderness Camp Shakat Tun will für Indigene und Touristen gleichermaßen ein Rückzugsort in der Natur sein. "Wir haben hier auch Bären zu Gast, zum Glück gab es nie Probleme", sagt Allen. "Wir respektieren sie, und sie respektieren uns." Reisegruppen, die ohne großen Komfort auskommen und denen eine über alles erhabene Natur zur Erholung genügt, sind ebenfalls willkommen. Manchmal führt ein Schamane in einer aus Ästen und Erde gezimmerten Jurte Reinigungsrituale durch. Manchmal geht Allen auch mit Alkohol- und Drogenabhängigen Fallen stellen. "Wieder mit der Natur in Einklang zu leben ist für sie die beste Therapie."

Angehörige der Indigenen, die in Kanada als First Nations bezeichnet werden begeistern sie für Kanufahrten oder die Wildtierbeobachtung im Yukon-Gebiet.
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Allen ist kein weltfremder Wildnisromantiker. Als langjähriger Vorsitzender seines Stammes und Rektor der Yukon University hat er an Konferenzen für Indigene in verschiedenen Ländern teilgenommen und traf Menschen aus aller Welt. Mit dem Glauben an eine Zukunft der indigenen Völker ist er nicht allein.

Trotz ihrer oftmals traumatischen Vergangenheit blicken viele First Nations hoffnungsvoll in die Zukunft. In den letzten Jahren haben viele eigene Kulturzentren und Gedenkstätten teils in den ehemaligen Residential Schools eröffnet. Immer mehr Bedeutung gewinnen sie auch im Tourismus. Im Great Bear Rainforest in British Columbia ziehen Grizzly-Touren immer mehr Menschen an, die sich für die spirituelle Bedeutung der Bären für die Ureinwohner interessieren. Orcas und andere Tierarten spielen in der Mythologie der indigenen Völker ebenfalls eine wichtige Rolle. Doch nicht nur die einzigartige Natur, sondern auch die Kultur der First Nations fasziniert immer mehr Kanada-Urlauber. Mittlerweile stehen Zeremonien und Powwows, also Treffen zur Brauchtumspflege, bei vielen auf dem Reiseprogramm. Dabei wird die leidvolle Geschichte nicht ausgespart.

Wo die Lachse laichen

Etwa eineinhalb Autostunden südlich vom Kluane-See beobachtet Sancheä Madison Allen die Lachse, die jetzt im Herbst zum Laichen in dem Gebirgsbach neben dem Dorf Klukshu eintreffen. Manchmal fischen unweit der verstreuten Blockhütten auch Grizzlys, doch die meisten Touristen fahren an dem einstigen Sommerquartier der Champagne and Aishihik First Nations meist achtlos vorbei Richtung Alaska. Die Enkelin von Jamena James Allen kommt jedes Jahr um diese Zeit zum Fischen hierher. Diesmal bringt sie auch ihren vierjährigen Sohn mit.

"Als ich klein war, leuchtete der Bach um diese Zeit noch von den vielen Rotlachsen", erzählt die 26-Jährige in der weiß-blau karierten Holzfällerjacke mit dem feinen Nasenring, "wohl wegen der Überfischung in Alaska und wegen des Klimawandels sind es heute immer weniger."

Trotz ihrer oftmals traumatischen Vergangenheit blicken viele First Nations hoffnungsvoll in die Zukunft. In den letzten Jahren haben viele eigene Kulturzentren und Gedenkstätten teils in den ehemaligen Residential Schools eröffnet.
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Die Morgensonne wirft einen doppelten Regenbogen über den Bach, aus dem immer wieder die weinroten Rücken der Lachse schnellen. Ihr Großvater hat Sancheä das Fischen gelehrt. Sie begleitet ihn auch zum Fallenstellen in den Wald und nimmt ihren Sohn mit. Die Felle verarbeitet ihre Großmutter zu Kleidung und Schuhen. Heute nutzt die Familie alles, was sie jagt und fischt, für den Eigenbedarf, so wie es ihre Vorfahren einst taten.

Dän k’è, die Sprache der Indigenen dieser Region, erlebt gerade eine Wiedergeburt. Während Allens Eltern die Muttersprache des Großvaters gar nicht mehr sprachen, hat Allen sie in Kursen gelernt und wirkt in einer Musik- und Tanzgruppe mit, die auch für Touristen Lieder in Dän k’è aufführt. "Ich bin sicher, mit der nächsten Generation werden die indigenen Sprachen noch lebendiger werden. Mein Sohn lernt Dän k’è schon im Kindergarten. Er spricht es schon jetzt besser als ich." Mit dem "Da Kų"-Kulturzentrum in Haines Junction haben die Champagne and Aishihik First Nations seit 2012 eine Bühne, um ihre Musik und ihre Traditionen Besuchern aus der ganzen Welt näherzubringen.

"Manche schreiben sich jetzt auch Textnachrichten in ihren Sprachen", sagt Allen. "Wir glauben, dass die kommenden Generationen den durch die Residential Schools entstandenen Teufelskreis aus Kulturverlust und Alkohol durchbrechen werden." (Win Schumacher, 16.10.2022)