Die 121-jährige Geschichte der Nobelpreise ist bis heute eine sehr männliche Angelegenheit, und auch in diesem Jahr gibt es nur eine einzige Preisträgerin in den naturwissenschaftlichen Kategorien. Aber was für eine: Die US-amerikanische Biochemikerin Carolyn Bertozzi, der vergangene Woche gemeinsam mit zwei Fachkollegen der Chemienobelpreis 2022 zugesprochen wurde, ragt nicht nur als einzige Laureatin unter lauter Preisträgern heraus. Ihre Forschungsleistungen und ihr Werdegang sind so beeindruckend, dass sich der prestigereiche Preis geradezu natürlich in ihre bemerkenswerte Karriere einzufügen scheint.

"In der Wissenschaft gibt es keine Misserfolge, sondern nur Experimente, mit deren Ergebnis man nicht gerechnet hat", sagt Bertozzi. Sie entwickelte eine revolutionäre Methode, um Zellmechanismen in lebenden Organismen zu erforschen.
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Aufgefallen ist die 1966 geborene Wissenschafterin in Fachkreisen schon früh. Während ihres Studiums der Biologie und der organischen Chemie an der Harvard University brillierte sie mit Bestnoten und erhielt erste Preise – nicht nur in der Wissenschaft: Als Keyboarderin gewann sie 1986 mit ihrer Rockband Bored of Education einen Musikwettbewerb unter US-Elitehochschulen. Ihr damaliger Bandkollege Tom Morello schaffte später als Gitarrist bei Bruce Springsteen und Gründungsmitglied von Rage Against the Machine den musikalischen Durchbruch.

Die Eleganz der Chemie

Bertozzi haute weiterhin gelegentlich in die Tasten, blieb aber der Wissenschaft treu. "Ich habe mich in die Eleganz der organischen Chemie verliebt", erzählte Bertozzi vergangene Woche. "Das ging so weit, dass ich an Samstagabenden, wenn meine Freunde auf Partys gingen, nach Ausflüchten suchte, um zu Hause bleiben und meine Chemiebücher lesen zu können." Leicht wurde Bertozzi der Einstieg in die wissenschaftliche Karriere aber trotz des Fleißes und ihrer offensichtlichen Begabung nicht gemacht.

Obwohl sie zu den besten Studierenden ihres Jahrgangs zählte, erhielt sie zunächst keine Forschungsstelle an der Uni. Als lesbische junge Frau fühlte sie sich im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb wie eine doppelte Außenseiterin, erzählte sie später. Erst ein notgedrungener Ausflug in das Teilgebiet der physikalischen Chemie brachte ihr eine Stelle und wissenschaftliche Förderung ein. Später wechselte Bertozzi an die University of California in Berkeley – und entdeckte ein Forschungsfeld für sich, das sie nachhaltig verändern sollte.

Molekulare Markierung

Bertozzi beschäftigte sich mit sogenannten Glykanen. Die wichtige Rolle, die diese Ketten aus Zuckermolekülen bei der Interaktion zwischen einzelnen Zellen spielen, war in den 1990er-Jahren noch stark unterbelichtet. Das lag auch daran, dass die Untersuchung der Glykane in lebenden Organismen enorm herausfordernd war.

Bertozzi fand einen Weg, die Zuckerketten und ihren Einfluss auf die Zellfunktion erforschbar zu machen: mithilfe fluoreszierender Moleküle, die an Glykane binden und diese im Labor sichtbar machen, ohne aber die natürlichen biologischen Zellprozesse zu beeinträchtigen. Mit dieser sogenannten bioorthogonalen Markierung schuf sie eine Methode, mit der sich die Signalübertragung zwischen Zellen beobachten lässt.

Heute ist dieses Werkzeug in der Erforschung von Krankheiten und bei der Suche nach neuen Wirkstoffen unverzichtbar, wie das Nobelkomitee vergangene Woche festhielt. Die Methode mache es möglich, neue Moleküle zu entdecken, aber auch therapeutische Anwendungen zu testen, erklärte Bertozzi nach Bekanntwerden ihrer Auszeichnung. "So können wir sicherstellen, dass Wirkstoffe im menschlichen Körper an der richtigen Stelle ankommen." Die erfolgreichen Anwendungen sind vielfältig, die Entwicklung neuer Tests für Infektionskrankheiten zählt ebenso dazu wie Medikamente zur Bekämpfung von Tumoren oder von Covid-19.

Engagierte Forscherin

Bertozzi, die heute eine Professur in Stanford innehat, kann auf mehr als 600 wissenschaftliche Publikationen zurückblicken und ist Mitglied in zahlreichen Akademien. Die fast 50 Preise und Ehrungen aufzulisten, die sie bisher erhalten hat, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ein paar seien aber erwähnt: Mit 33 erhielt sie als jüngste Forscherin das renommierte MacArthur-Stipendium, in den USA auch als "Genius Grant" bekannt. 2008 wurde ihr die Willard-Gibbs-Medaille der American Chemical Society verliehen, 2010 bekam sie als erste Frau den mit rund 500.000 Euro dotierten Lemelson-MIT-Preis. 2022 folgte, kurz vor dem Nobelpreis, der angesehene Wolf-Preis in Chemie.

Bertozzis Engagement für die Rechte der LGBTQ+-Community wurde ebenfalls mit Lorbeeren bedacht (LGBTQ Scientist of the Year Award 2007). Die Aids-Krise der 1980er-Jahre habe sie dazu motiviert, sich mit der Suche nach neuen Wirkstoffen zu befassen, sagte die Chemikerin einmal. Als erfolgreiche lesbische Frau in der Wissenschaft und Mutter dreier Kinder spüre sie auch eine Verantwortung, gegen Diskriminierung einzutreten und junge Menschen im Forschungsbetrieb zu unterstützen.

"Die Wissenschaft wirkt manchmal schwierig und frustrierend, weil sie eine hohe Misserfolgsquote hat", sagte Bertozzi vergangene Woche. "In Wirklichkeit gibt es aber keine Misserfolge, sondern nur Experimente, mit deren Ergebnis man nicht gerechnet hat. Und das ist die Chance, etwas Neues zu lernen." (David Rennert, 12.10.2022)