Die Frontex-Zentrale in Warschau – ein Ort, an dem Grundrechtsbeauftragte einen schweren Stand haben.

Foto: EPA/Marcin Obara

Geht es um illegale Praktiken an der EU-Außengrenze gegen Migranten und Flüchtlinge, Stichwort Pushbacks, so war in den vergangenen Monaten vor allem von Griechenland die Rede. Doch auch weiter westlich in Malta wurde ein perfider Plan erdacht und schließlich umgesetzt, damit auch ja niemand auf der Insel anlegen kann. Darüber hatte bereits Ende April unter anderem die "New York Times" berichtet. Dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex dieses Fehlverhalten zwar registrierte, eine Überprüfung durch die internen Grundrechteschützer aber verhinderte, ist hingegen neu.

Seinen Anfang nimmt diese Geschichte im April 2020, als ein Fischkutter namens Dar Al Salam 1 ein überfülltes Schlauchboot voller Migranten und Flüchtlinge auf dem Weg von Libyen nach Malta in Seenot abfängt. Viele sind da bereits ertrunken, die Dar Al Salam 1 nimmt die rund 50 Überlebenden auf.

Wie Koordinaten der Freiwilligeninitiative Alarm Phone später zeigen werden, befindet sich das Schlauchboot zu diesem Zeitpunkt in internationalen Gewässern, allerdings auch in der Nähe von Maltas Marine, sodass diese laut Seerecht zu Hilfe hätte eilen müssen.

Rückkehr nach Libyen

Stattdessen fährt das Schiff zurück nach Libyen und legt in Tripolis an. An Bord hat es nicht nur die 50 Geretteten, sondern auch große Mengen an Lebensmitteln und Wasser, um sich mit den libyschen Behörden gut zu stellen. Die geretteten Migranten und Flüchtlinge werden dann in eines der berüchtigten von Milizen geführten Internierungslager gebracht. Berüchtigt, weil die Insassen dort erwiesenermaßen Folter und Missbrauch ausgesetzt sind. So weit, so schlimm.

Andere Namen für Schiffe

Das Perfide daran? Die Dar Al Salam 1, die Tremar, die beim Pushback nach Libyen dabei war, sowie ein drittes Schiff namens Salve Regina wurden diskret von den maltesischen Behörden aufgestellt, um Flüchtlinge und Migranten abzufangen. Die Fischkutter haben eigentlich andere Namen und wurden auch optisch verändert, zudem wurde zeitweilig der AIS-Transponder ausgeschaltet, der den Standort verrät. Damit sollten die Aktivitäten geheim gehalten werden.

Doch daraus wurde nichts, denn all dies verriet Amer Abdelrazek – der Kapitän der Tremar – der "New York Times".

Was das mit Frontex zu tun hat? Die EU-Grenzschutzagentur steht schon seit längerem in der Kritik. Ihr wird vorgeworfen, direkt oder indirekt in Pushbacks – die asylrechtlich verbotene Zurückweisung von Schutzsuchenden an der Grenze – hunderter Flüchtlinge und Migranten involviert gewesen zu sein. Fabrice Leggeri gilt als Hauptverantwortlicher dieses Fehlverhaltens, weshalb er auch Ende April als Frontex-Direktor zurücktrat.

Zwischenfall auch in Olaf-Bericht

Eine wichtige Rolle dürfte dabei ein Untersuchungsbericht der EU-Antibetrugsbehörde Olaf gespielt haben, der Leggeris Machenschaften unter die Lupe nahm. Dafür wurden Mails und Whatsapp-Nachrichten von Leggeri und seinem Team sowie interne Dokumente ausgewertet, zudem erfolgten Gespräche mit Zeugen. Der Bericht, der nur schwer einzusehen ist, wurde ursprünglich an den "Spiegel", "Lighthouse Reports" und "FragDenStaat" geleakt, der STANDARD konnte ihn auswerten (hier zum Nachlesen). Darin ist unter anderem im Detail belegt, wie Frontex wegsah, wenn griechische Behörden, mit denen sie kooperierten, Pushbacks durchführten. Und auf den Seiten 18 bis 20 des 129 Seiten langen Berichts geht es um einen Zwischenfall aus dem April 2020.

Zu lesen ist, dass ein Aufklärungsflugzeug von Frontex vier Schlauchboote entdeckt hat, die sich von Libyen gen Malta bewegen. Sie sind komplett überfüllt mit insgesamt rund 250 Migranten und Flüchtlingen. Die maltesischen Behörden kooperieren nicht mit Frontex in Rettungsaktionen, noch geben sie die exakten Koordinaten der Schlauchboote weiter, heißt es in dem Bericht.

Boot nach Italien geschleppt

Später werden zwei dieser Boote in Sizilien anlegen. Zitiert wird dann die damalige Whatsapp-Nachricht eines Frontex-Mitarbeiters: "Das Boot, das in Italien angelegt hat, hatte neue Wasserflaschen aus Malta an Bord, also hat Malta das Boot vermutlich nach Italien geschleppt. Ich wundere mich, auf welchem politischen Level Druck auf Malta ausgeübt wurde, denn das ist ein unverantwortliches Verhalten." Auch wird festgehalten, passend zu den Aussagen des Malteser Schiffskapitäns, dass rund 50 Migranten und Flüchtlinge nach Tripolis zurückbefördert wurden. Laut Frontex waren dabei auch fünf Leichen an Bord, sieben Menschen waren zuvor schon ertrunken.

Nicht nur bleibt Frontex tatenlos, brisant ist auch, wie danach intern mit diesem Zwischenfall umgegangen wird. Im Olaf-Bericht ist dazu Schriftverkehr innerhalb der EU-Grenzschutzagentur festgehalten. So fragt ein Mitarbeiter per Mail einen anderen, wie das Beobachtete kategorisiert werden soll. Zur Auswahl standen:

Kategorie 2: Zwischenfall bei den Aktivitäten von Frontex mit politischem oder öffentlichem Interesse

Kategorie 4: Zwischenfall im Zusammenhang mit möglichen Verletzungen von Grundrechten

Der wichtige Unterschied, der auch in der Mail festgehalten ist: Bei Kategorie 4 würde der oder die Grundrechtsbeauftragte von Frontex die Untersuchung des Zwischenfalls leiten. Diese Person und ihr Team sollen darauf achten, dass bei der Arbeit der EU-Grenzschutzagentur die Grundrechte der betroffenen Menschen eingehalten werden.

Unter der Ägide von Fabrice Leggeri hatte dieses Team einen schweren Stand, laut Olaf-Bericht wurde es immer wieder intern bei seiner Arbeit behindert. In einem Meeting sagte ein Mitarbeiter, die Grundrechtsbeauftragten seien "keine echten Frontex-Mitarbeiter". Via Whatsapp wurde die damalige Menschenrechtsbeauftragte gar mit dem kambodschanischen Diktator Pol Pot verglichen.

Keine Lust auf Grundrechteschützer

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass vieles unternommen wurde, um die internen Grundrechtsbeauftragten in diesem Fall außen vor zu lassen, auch wenn es, wie Olaf im Bericht vermerkt, "starke Hinweise auf eine Grundrechtsverletzung" gab. Akribisch gibt dann Olaf auch das Prozedere der Kategorisierung dieses Zwischenfalls wieder.

So wurde zunächst aufgetragen, Kategorie 2 auszuwählen, was eben eine Untersuchung ohne Grundrechtsbeauftragte zur Folge gehabt hätte. Das Frontex Situation Centre, das alle Zwischenfälle beobachtet und Informationen dazu sammelt, bittet daraufhin schriftlich, diese Kategorisierung zu überdenken, da die vorliegenden Hinweise auf einen Zwischenfall der Kategorie 4 hindeuten. Doch mit teilweise fadenscheinigen Argumenten wird eine Umkategorisierung immer wieder und schließlich dauerhaft abgewehrt.

Tarnen und Täuschen

Dieser Fall ist stellvertretend für die Arbeit von Frontex unter Fabrice Leggeri: ein Tarnen und Täuschen, nicht nur auf hoher See, sondern auch im schriftlichen bürokratischen Alltag, um Pushbacks zu ermöglichen oder sie unter den Tisch zu kehren, wenn sie registriert wurden. Oder man sah weg, indem man Aufklärungsflugzeuge präventiv einfach gleich abzog.

Doch auch nach dem Rücktritt Leggeris und nun unter der interimistischen Nachfolgerin Aija Kalnaja hat sich bislang nicht viel am zweifelhaften Engagement von Frontex im Mittelmeer geändert. Dabei wäre Frontex laut eigenen Regularien verpflichtet, eine Mission sofort abzubrechen, wenn es dabei zu Grundrechtsverletzungen kommt. (Kim Son Hoang, 13.10.2022)