Seine Romane gleichen Wimmelbildern: Péter Nádas, vor ein paar Jahren porträtiert auf dem Budapester Ostbahnhof.

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Als Spross jüdisch-kommunistischer Eltern erhielt Péter Nádas nicht nur die Weihe der Taufe. Der Bub wurde zunächst im Geiste Luthers erzogen. Zuhause äußerte Klein-Péter pflichtschuldig, dass er die Juden aus tiefster Seele hasse. Ob er denn welche kenne? Als er wahrheitsgemäß verneinte, packte ihn die Mutter an den Schultern, zerrte ihn vor den Spiegel und rief: "Bitte, hier hast du einen!"

Im Bild erzwungener Selbsterkenntnis tauchen die Schrecken des 20. Jahrhunderts, vielfach gewendet, noch einmal auf: das eigene Selbst bis zur Kenntlichkeit entstellend. Péter Nádas‘ Werke – so die zentralen Parallelgeschichten (auf Deutsch 2012 erschienen) – umfassen mitunter weit über tausend Buchseiten. In ihnen schießen die Splitter der Wirklichkeit zu Wimmelbildern zusammen: Partikel, Fragmente, Körner einer unter totalitären Druckverhältnissen entstandenen, schier "unendlichen" Landschaft.

Das Kratzen am eigenen Konterfei beschert wunde Finger. Sucht man in den Romanen des Budapester Weltliteraten nach jener Passage, die das Erwachen seines Bewusstseins unbezweifelbar festhält, wird man tiefer loten müssen. In seiner Autobiografie Aufleuchtende Details (auf Deutsch: 2017) kehrt ein solches Urbild verlässlich wieder. Der gerade Zweijährige sieht sich in ihm an die weiße Wand eines Treppenhauses geschleudert – Wirkung eines jener Bombenangriffe, die viele Lücken in das Budapester Straßenbild gerissen hatten.

Nádas‘ Eltern verschwanden früh; der Vater sah sich durch stalinistische Anklagen 1958 zum Suizid veranlasst. Freimütig räumt der autobiografische Erzähler ein: Bildliches Erinnern allein ergebe noch keinen "Sinn". Erst durch nachträgliche Versprachlichung würden die Wahrnehmungsinhalte Teile eines "universalen Verstandes". Die Lückenhaftigkeit folgt einem Kalkül. Nádas: "Ich habe in meinem Schreiben alles Persönliche vermieden und versucht, es durch Offenheit auszugleichen."

Offiziösen Verlautbarungen hat Nádas niemals über den Weg getraut. In seinem Erzählen taucht er tief ein in die Empfindungswelten seiner Figuren, verfolgt ihr Wähnen bis hinein in die kleinste physiologische Regung. Sein Credo dabei lautet: "Sie sind alle ich, ohne dass ich es wirklich wäre."

Rekordverdacht

In den Parallelgeschichten gibt es die über hundertseitige, rekordverdächtige Beschreibung eines Koitus. Dabei bleibt kein Quadratmillimeter Schleimhaut trocken. Die Monotonie anonymer homosexueller Begegnungen auf der Budapester Margareteninsel tut ein Übriges: Sie erinnert an ähnliche Litaneien in Pier Paolo Pasolinis Petrolio.

Alles Hochämter einer verschämten, ins gesellschaftliche Abseits verdrängten, keinesfalls pornografischen Lust. Und doch auch Offenbarungseide: Hinweise auf eine Geschichte des Alltagslebens, dessen totalitäre Vergiftung Lügen erzeugt. Unwahrheiten, die ob ihrer mikroskopischen Wirksamkeit die eigene, familiäre Überlieferung nachhaltig zerstören.

Über die Methoden einer schockhaften Mehrfachbelichtung hat der gelernte Fotograf und Journalist Nádas intensiv geforscht. Im Erstling Ende eines Familienromans (1977) wählte er noch ein stupendes Umgehungsmanöver: Wie Fliegenschwärme umschwirren die Sätze das kindliche Ich. Dieses ist nicht nur der sprichwörtlich unzuverlässige Erzähler: Es sieht sich, in den ausladenden Erzählungen seines Großvaters, auf eine jüdische Tradition verwiesen, die tausend Sprünge aufweist, groteske Verlängerungen des Bibelgeschehens auf europäisches Festland.

Kollektives Leiden

Sie enthält das gleichsam mythische Substrat einer vielhundertjährigen, kollektiven Leidensgeschichte. Es war denn auch Nádas, der früh, und spürbar angewidert, das Wesen von Viktor Orbáns Politikstil auf den Punkt brachte: die Ersetzung demokratischer Gesinnung, ihrer Institutionen und Einrichtungen, durch plumpe Clanwirtschaft. Sein jüngster Roman – man scheut sich, ihn ein Alterswerk zu nennen – heißt Schauergeschichten: das vielstimmige Panoptikum einer von Missgunst und Borniertheit getriebenen Dorfgemeinschaft.

Bereits 1991 erhielt Nádas den Österreichischen Staatspreis für Literatur. Schon damals ließ er wissen: "Wir in Europa sind alle Kriegsversehrte". Die Welt des Gulaschkommunismus schien eben noch "abgestellt wie das Wasser in einem tropfenden Hahn". Als Erzähler von weltliterarischem Format schlug sich dieser Wahrheitsforscher früh in die Büsche: dorthin, wo er Atem schöpfen konnte. Um "alles, wirklich alles niederzuschreiben, was die Menschen voreinander verschweigen." Am Freitag wird der famose Péter Nádas 80 Jahre alt. (Ronald Pohl, 14.10.2022)