Kämpferischer Glaube an die Macht der Literatur: Serhij Zhadan bei der Eröffnung des Urbäng-Festivals Köln.

Foto: IMAGO/Panama Pictures

Vom ersten Tag des Überfalls an führt Serhij Zhadan in Form kurzer Nachrichten an seine Freunde minutiös Kriegstagebuch, obwohl ihm dazu eigentlich die Zeit fehlt: Fast Tag und Nacht ist er im Einsatz, er hilft bei der Evakuierung von Bewohnern aus beschossenen Wohnvierteln, verteilt Lebensmittel und Medikamente und organisiert Lieferungen an das Militär. Zhadan ist Schriftsteller und Musiker, aber seit dem 24. Februar ist er in erster Linie Ukrainer, der auf Facebook den Menschen in seiner Heimat Zuversicht gibt.

"Hallo allerseits, wir waren heute den ganzen Tag unterwegs, jetzt kommen wir heim, denn hier ist unser Zuhause, hier sind unsere Familien, und hier gehören wir hin." So lautet die erste Nachricht, die Zhadan um 15.05 Uhr am 24. Februar verbreitet. Die für die nächsten Tage geplanten Konzerte seiner Band werden abgesagt, sie würden später nachgeholt werden, lässt er wissen, "nach unserem Sieg".

Während viele Ukrainer das Land verlassen, ist für Zhadan von Anfang an klar, dass er bleiben wird – nicht bloß um humanitäre Hilfe zu leisten, sondern um die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen. "Freunde, vergesst nicht: Dies ist ein Vernichtungskrieg und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren. Wir müssen ihn gewinnen."

Brutale Wirklichkeit

Serhij Zhadan, "Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg". Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. € 20,60 / 243 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022

Vor Mobilisierungsstellen stehen Männer Schlange und lassen sich "einschreiben", um ihre Heimat zu verteidigen. "Charkiw kämpft, um die Stadt donnert und grollt es", lautet ein Eintrag am 27. Februar. Am folgenden Tag schon wird die Stadt gezielt mit Raketenwerfern beschossen. "Sie können unsere Häuser zerstören, aber nicht unsere Verachtung für sie", schreibt Zhadan am 1. März. Immer öfter werden nun aber auch getötete Zivilisten erwähnt, sie sind das eigentliche Ziel der Angriffe, die sich gegen Wohnungen, Schulen, die Universität richten. Keine Armee führt hier Krieg, sondern "Verbrecher", "Barbaren", die die Geschichte, Kultur und Bildung der Ukraine zerstören wollen, weil ihnen all das "fremd und feindlich" erscheint. Es ist aber auch, vielleicht mehr noch, die russische Kultur, die hier eine Niederlage erlebt: "die ‚Kultur Dostojewskis und Tolstois‘", schreibt Zhadan. "Und ich kann nicht einmal Schadenfreude empfinden. Denn die Niederlage der Kultur bedeutet in der Realität – von Grad-Raketen verbrannte Zivilisten."

Was am Anfang in Zhadans Aufrufen zum Widerstand noch heldenmütig und heroisch klingt, wird bald von der brutalen Wirklichkeit des Kriegs überlagert. "Von Getöteten zu hören ist besonders uner träglich", heißt es in einem Eintrag vom 14. März.

Gefahrenzonen

Allzu oft ist Zhadan selbst mitten in der Gefahrenzone, etwa wenn nicht weit von ihm der Chauffeur eines Busses getroffen wird, als sie gerade Bewohner evakuieren. Oder er hört, dass man einen Bekannten, der gefallen sei, nicht nach Haus bringen könne, um ihn zu beerdigen, "weil man seinen Kopf nicht findet". Dann geht der Alltag schon wieder weiter: "Die Stadt lebt ihr Leben." Es ist nur eines zwischen Luftalarm und Explosionen.

Zhadans Notizen samt geposteten Fotos umfassen die ersten vier Kriegsmonate und sind in erster Linie Ermutigungen, Durchhalte parolen und Aufrufe zu helfen, etwa dem Gebietskrankenhaus chirurgische Instrumente zukommen zu lassen. Kurznachrichten wie "Über der Stadt wehen unsere Flaggen" bedeuten ein beruhigendes Lebenszeichen, die Ermunterung, den Widerstand nicht aufzugeben. "Morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher", schließt er am 11. März um 22.19 Uhr.

Immer wieder finden sich in den Aufzeichnungen aber auch literarische Einschübe, die eine Grundstruktur ergeben und die erahnen lassen, welche Prosa da entstanden wäre, hätte sich der Autor nur auch die Zeit nehmen und an den Schreibtisch setzen können.

Wahrheiten

Am 6. März, als es plötzlich frühlingshaft wird, notiert Zhadan: "Der Himmel über Charkiw war heute hoch und klar, und die Wolken irgendwie leichtsinnig sommerlich." So könnte vielleicht einmal der Roman beginnen, den er eines Tages schreiben wird, wenn dieser ungeheuerliche Krieg vorbei ist. Dann wird sich die Macht der Literatur als stärker erwiesen haben, denn die, die sich dem Tod entgegenstellen, "wir", schreibt Zhadan, "nehmen uns das Recht, selbst die Wahrheit zu sagen", sie wird "im Himmel vergehen und die Luft klarer und stärker machen".

Das ist, was die Ukrainer ihren Angreifern überlegen macht und wovon die Menschen in Russland nur träumen können: das Recht auf das freie Wort. Es zählt am Ende mehr als alles Kriegsmaterial zusammen. "Das Schreiben widerspricht dem Tod", bekundet Zhadan im Nachwort die Funktion des Schriftstellers im Krieg. (Gerhard Zeillinger, 15.10.2022)