Schreibt über ihre Herkunft aus nichtbürgerlichem Milieu: Daniela Dröscher.

Foto: Carolin Saage

Wir treffen uns in Daniela Dröschers Berliner Arbeitswohnung, die sie mit anderen Schriftstellerinnen teilt, um über ihr autofiktionales Buch Lügen über meine Mutter, das auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 landete, zu sprechen. Die Autorin hatte sich bereits mit Zeige deine Klasse und Essays zu ihrer Herkunft aus nichtbürgerlichem Milieu geäußert. Dröschers Mutter ist Kind von aus Schlesien Ausgesiedelten, der Vater stammt aus bäuerlichem Umfeld. Als wir miteinander sprechen, können wir nicht ahnen, dass ein paar Tage später Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet werden wird.

STANDARD: Wie wurden Sie für das Thema Klasse und Literatur sensibilisiert?

Dröscher: Es war immer schon da und hat sich früh in den Lektüren gespiegelt. Ich las zum Beispiel Christine Nöstlinger, eine sehr klassenbewusste Autorin, Jack London, Jeanette Winterson, eine "Working class"-Autorin. Zum Thema, Armut, Aufstieg, Entfremdung zwischen den Generationen, hat es mich sofort hingezogen. Aber dieses Erkennen, dass das mein Gegenstand ist, geschah durch die Lektüre von Annie Ernaux und Didier Eribon, mit großer Verspätung, weil im westdeutschen Diskurs die Klassenfrage angeblich nicht existiert.

STANDARD: Ab wann war klar, dass Sie selbst dieses Thema in die Literatur tragen wollen?

Dröscher: Der Entschluss, Zeige deine Klasse zu schreiben, geschah aus einem Scheitern heraus, ich hatte verschiedenen Verlagen ein Manuskript angeboten, dann aber bemerkt, dass dem Text etwas fehlte, obwohl ich bestimmt vier Jahre daran gearbeitet hatte. Inzwischen weiß ich, dass es die Kategorie Klasse war. Danach versuchte ich dieses Misslingen zu verarbeiten und zu ergründen, warum ich mich permanent falsch und fehl am Platz fühle.

STANDARD: Scham ist ja ein Grund, warum man seine Herkunft verstecken will. In "Zeige deine Klasse" entwerfen Sie sogar ein Alphabet der Scham und sprechen über die Dialektik der Scham. Was ist darunter zu verstehen?

Dröscher: Im Alphabet der Scham habe ich versucht, mir 15 Jahre meines Lebens im Literaturbetrieb in Episoden schlaglichtartig zu vergegenwärtigen. Die Dialektik der Scham ist mir wichtig, denn ich kann mich als Bildungsaufsteigerin in beide Richtungen schämen. Ich kann mich weiterhin nach oben schämen und mich an die fürchterliche Erzählung der Leistungsgesellschaft anpassen, und ich kann mir anschauen, wem es sehr viel schlechter geht und wer meine Solidarität braucht.

STANDARD: Im neuen Buch geht es um den Aufstiegskampf Ihrer Eltern, beobachtet aus derSicht des Kindes. Begleitet ist die kindliche Perspektive durch essayistische Einschübe. Wie kam es zu dem Entschluss, das Leben Ihrer Eltern literarisch zu ergründen?

Dröscher: Ich wollte meine Eltern als Romanfiguren behandeln, weil in dieser kleinsten sozialen Einheit der Kernfamilie täglich nicht nur ein Geschlechter-, sondern auch ein Klassenkampf stattfindet. Das Kind mittendrin, das sich orientieren muss. Die vermeintlich privaten Konflikte sind eigentlich politische Kämpfe, die die Eltern aber nicht als solche erkennen. Wir können den uralten Satz, dass das Private politisch ist, nicht oft genug wiederholen. Gesellschaftliche Subjekte werden wir durch Einflüsse von außen und von innen. In der Familie lernen wir Macht- und Geschlechterverhältnisse, Abhängigkeiten, den Umgang mit Geld.

STANDARD: In der Figur der Mutter im Roman, die mit ihrem Übergewicht, also mit ihrer körperlichen Erscheinung zu kämpfen hat, wird die Klassenfrage mit dem Feminismus verbunden. Die patriarchale Unterdrückung des weiblichen Körpers in der Kleinfamilie spiegelt die gesellschaftliche wider.

Daniela Dröscher, "Lügen über meine Mutter". 24,70 Euro/ 448 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, 2022.
Foto: Lügen meiner Mutter: Kiepenheuer und Witsch

Dröscher: Diese Mutter ist nicht zuletzt ein arbeitender Körper. Sie schuftet von früh bis spät, das steigert sich im Laufe des Buches. Ihr Körper verändert sich auch deshalb zum Negativen, aus Sicht des Vaters, weil es ein Körper ist, der nie zur Ruhe kommt, der immer sorgt, versorgt, Erwerbsarbeit, emotionale Arbeit leistet. Das Buch von Franziska Schutzbach Die Erschöpfung der Frauen passt eins zu eins dazu. Erschöpfung produziert Hormone, die dem Körper nicht guttun, sie wirken sich auf den Stoffwechsel aus. Ich finde es wichtig, diesen Zusammenhang zu erwähnen, ohne dabei ihren Körper pathologisieren zu wollen. Dieser Frauenkörper, der beschämt wird, der nicht repräsentativ genug ist für die Angestelltenwelt des Vaters, ist ein Körper, der sich permanent abmüht. Heute würde man sagen, die Mutter beutet sich selbst aus. Sie tut das aus vielen Gründen, einmal ist es die Rolle, die sie gelernt hat, es ist aber auch die schlesiendeutsche Herkunft, die ihr anhängt. Wer fremd ist, ist nur gut, wenn er noch mehr leistet. Die Leistungsgesellschaft dieser Zeit formt ihren Körper und deformiert ihn auch.

STANDARD: Über ihren Körper werden dieehelichen Konflikte ausgetragen. Auch das Scheitern des Vaters, seine Probleme, sichin die Klassenstruktur einzufügen, führt er zurück auf die Erscheinung seiner Frau. Ermeint, sie wäre der Grund, warum er nicht weiterkommt.

Dröscher: Heute würden wir sagen, es ist eine klassische Sündenbockmechanik. Doch diese fixe Idee des Vaters hat er sich nicht allein ausgedacht, denn bestimmte Körper gelten ja bis heute als nicht repräsentativ. Die dekorative Frau an der Seite eines erfolgreichen Mannes soll sportlich, jung, dynamisch sein. Die soll nicht krank sein, das ist eine strenge Norm, und davon ist dieser Vater nicht frei. Es ist also mehr als seine fixe Idee, sondern hier kommt die Aufstiegserzählung an Grenzen, denn ihr Körper passt nicht dazu.

STANDARD: Das heißt, er scheitert sogar an der Aufgabe, den Körper seiner Frau zu kontrollieren, daher auch dieser Furor, der ihn immer wieder ergreift?

Dröscher: Genau, die Firma, in der er arbeitet, ist in der Hand einer Dynastie. Jeder, der sich einmal an höfischen oder dynastischen Verhältnissen abgearbeitet hat, wird den Frust des Vaters verstehen können. Er kämpft schon seine eigenen Kämpfe in dieser Gesellschaft.

STANDARD: Das Essen wird zum Mittel sozialer Kontrolle und der Repression des weiblichen Körpers im Kapitalismus. Das bestimmt bis heute das tägliche Leben fast jeder Frau in wohlhabenden Gesellschaften.

Dröscher: Das ist eine Riesenindustrie. Zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren geschieht etwas Absurdes, die Frau wird als Konsumentin entdeckt, sie soll Haushaltsgeräte, Mode usw. erwerben. Aber bei ihrem eigenen Körper läuft der Konsum über Verzicht. Alles soll immer mehr, mehr, mehr werden, aber bei der perfekten Frau wird Verzicht gepredigt.

STANDARD: Das reicht bis heute, so viele Frauen beschäftigen sich mit ihrem Gewicht, leider sogar in der Generation meiner Tochter. Der Druck der Industrie und der Medien mit perfekten, eigentlich untergewichtigen Körpern ist enorm.

Dröscher: Der Slogan "Riot, don’t diet" fasst das sehr gut zusammen, denn diese Vorgabe hält Frauen davon ab, sich zu wehren, sie verbleiben im privaten Kampf gegen Kilos. Man kommt nicht auf die Idee, sich zu verbünden, zu organisieren. Aber das ist eben nichts Privates, sondern ein subtil funktionierender Mechanismus, der Frauen entsolidarisiert. Dieses ständige Vergleichen lernen Mädchen von klein auf.

STANDARD: Zurück zur Sprache. In Ihrem Buch verwenden Sie bildhafte Ausdrücke und Redensarten, die kursiv gesetzt sind und die Sie sich bewusst nicht versagen.

Dröscher: Ich fand diese Sprache, diese Floskeln, wie ich sie nenne, wichtig, um diese soziale Welt zu erzählen. Denn das ist die Sprache, in der diese Welt denkt, empfindet, an der sie sich orientiert, wie ein sprachlicher Marktplatz, der aus Floskeln besteht, und da geht man immer wieder mal hin, um sich zu orientieren. Teilweise sind die Menschen auch überfordert von den Problemen, denen sie ausgesetzt sind, und dann greifen sie zu solchen Ausdrücken. Das kann ein Automatismus sein, geschieht aber auch aus Unsicherheit, wenn sie eigentlich nicht mehr weiterwissen. Als Kind bin ich darüber gestolpert, weil sie so bildlich sind, wie im Stummfilm, zum Beispiel "Hals über Kopf", oder "Jemandem wird ein Bär aufgebunden". Als Kind versteht man das wörtlich, nicht im übertragenen Sinne, das sind Comic-Bilder, die aber auch brutal in ihrer Vereinfachung sind. Sie schneiden Gefühle ab oder lassen Gefühle gar nicht zu, eine Hilflosigkeit artikuliert sich darin.

STANDARD: Das ist spannend, dass Sie diese Floskeln als Instrumente der Erkenntnis nutzen, denn im üblichen literarischen Diskurs werden Schreibenden diese Worte oft ausgetrieben. Nur keine Floskeln, du musst immer einen eigenen Ausdruck finden, heißt es.

Dröscher: Ja, das war gewagt, ich wollte das aber ausprobieren, weil es als Farbe zu dieser Welt gehört, das kann einem auf die Nerven gehen zwischendurch, weil man denkt, das ist eng, das ist begrenzt. Aber diese Enge und Begrenztheit spüren auch die Figuren, die ich beschreibe. (Interview: Sabine Scholl, 15.10.2022)