Ilse Helbich in ihrem Garten in Schönberg am Kamp.

Foto: Mia Eidlhuber

Diesen Sommer verbrachte die Mutter mit ihrem kleinen Sohn und der neunjährigen Tochter am Millstätter See. Sie hatten sich in einem kleinen Austragshaus eingerichtet, das der Bauer für Sommergäste bereitstellte. Ihre Tage hatten immer den gleichen Ablauf: Nach dem Frühstück ging es ins Strandbad, wo bald eine Gruppe von Wiener Müttern mit ihren kleinen Kindern eintraf. Die Kleinen wurden zwei mitgebrachten Kindermädchen zur Beaufsichtigung überlassen, die Mütter zogen sich gleich darauf in die Strandbar zurück, wo sie schon wieder Kaffee tranken und die daheim verbotenen Zigaretten genossen; von dort drüben her klang oft fröhliches Lachen: Die Mütter schienen auch diesen Morgen zu genießen.

In diesem Treiben – die Mütterrunde dort und die Kleinkindergruppe da – war das Volksschulkind sich selber überlassen, so hatte es zwar die hohe Schaukel für sich allein, es konnte auch ins Wasser steigen und den neuen Schwimmstil ausprobieren, den es neulich im Kino von den amerikanischen Schwimmern abgeschaut hatte, Crowlen nannte man das.

Siesta, Strandcafé, Seepromenade

Zum Mittagessen ging es ins Gasthaus, dem folgte daheim eine beinahe allzu lange Siesta, später ein Besuch im eleganten Strandcafé, dann ein kleiner Spaziergang entlang der Seepromenade oder ausnahmsweise in das Wäldchen gleich oberhalb des Sees und dann wie immer ein Nachtmahl, das aus Schinken- oder Käsebrot bestand, und jetzt war der Ferientag schon wieder vorbei, und morgen würde ihm ein gleicher folgen.

Es gab natürlich auch Ereignisse, die diesen Ablauf punkteten: Das schöne italienische Paar in eleganter Strandkleidung, das nebeneinander auf zwei Stühlen schon am Vormittag in der Strandbar saß, jeder von beiden hatte ein hohes Glas mit einem exotischen buntfarbigen Getränk vor sich stehen; die beiden saßen stumm da und wechselten kein einziges Wort miteinander, und irgendwann standen sie auf und gingen, und niemand wusste, wohin.

Das andere Ereignis des Tages, gleich nach dem Frühstück, war der Auszug der Ziegen-Berti mit ihren drei Ziegen, die Berti – das Nachbarskind – hielt in der einen Hand eine leere Milchkanne und in der anderen eine Weidengerte, die sie manchmal drohend in die Richtung der ihr Anvertrauten schwang. Wenn sie am Sommerfrischlerhaus vorbeizog, schaute die Berti immer in die andere Richtung, damit sie den Gruß der Städterin ja nicht erwidern musste, und dem anderen Mädchen kam es so vor, als ob auch die Ziegen ihre Köpfe beharrlich von ihm wegdrehten; nicht einmal die wollten etwas von der Städterin wissen.

Doch heute fasste die sich ein Herz. So wie sie war, im Badekleidchen und in Sandalen, trat sie auf die Hirtin zu und fragte: "Darf ich mitkommen?" Die nickte nur, und stumm gingen die beiden jetzt nebeneinander her, eine ganze Weile lang, bis sie endlich einen entfernten lichten Wald erreichten.

"Na, so etwas!"

Dort setzte sich die Berti gleich auf einen Baumstumpf und bedeutete ihrem Gast, ihr gegenüber auf einem anderen Platz zu nehmen, und begann auch schon zu sprechen, und dieses Sprechen floss unaufhaltsam dahin. Die beiden ersten Sätze waren noch in einem Schriftdeutsch gekommen, wie es vielleicht die Lehrerin in der Schule verlangte, jedoch dann war die Berti in ihren Dialekt gefallen. Sie redete und redete und redete, die kleine Städterin verstand nichts mehr und behalf sich damit, dort, wo es ihr passend schien, ein "Na, so etwas!" oder ein "Gut gemacht!" einzuwerfen.

Jedoch diese Taktik, die das Mädchen seiner Mutter abgeschaut hatte, durchschaute die Berti schließlich. Mit einem Mal schwieg sie, sie presste die Lippen fest aneinander zum Zeichen, dass von ihr jetzt kein Wort mehr kommen würde. Aber das ging nur eine Weile so, dann hielten die beiden das Schweigen nicht mehr aus. Die Berti schlug vor, sie sollten jetzt einen Bauernhof bauen, nein, vielleicht keinen Hof, sondern nur einen Stall und vielleicht auch keinen Stall, vielleicht umzäunte Weiden, Pferche, wohin die Tiere aus den Ställen getrieben worden seien, könnten es werden.

Wie Berti das Folgen lernte

Das Stadtkind fragte: "Und deine Ziegen? Werden sie nicht inzwischen davonrennen?" Die Berti schüttelte energisch den Kopf und sagte: "Denen habe ich das Folgen schon beigebracht." Und jetzt fiel der anderen etwas Schreckliches ein: das Geplärre, das an manchen Abenden und gar nicht so selten vom Nachbarhof herüberdrang. Die keifende Stimme einer Frau und manchmal, ärger noch, die lallende Stimme eines Mannes, die Hiebe, die hörbar auf das andere Kind niederprasselten, und die Schmerzensschreie, die gleich auf die Schläge folgten. Da war der Berti das Folgen beigebracht worden, und was sie lernen musste, das Folgen, hatte sie ihre Ziegen gelehrt.

Die Pferche also. Berti wusste Rat. Rundum lag genug dürres Astwerk, davon brachen die beiden Mädchen kleine Stücke ab und steckten sie aufrecht in die vom gestrigen Gewitter noch feuchte Erde. Die Abteilung für die Ziegen konnte frei bleiben. Die grasten ja in voller Größe noch um sie herum, und das Stadtkind sah, wie sich nebenan die Kleinste gerade auf einem jungen Baumstamm hochrichtete und genüsslich Birkenblatt um Birkenblatt fraß. Für die beiden Schweine brauchten sie nur große Kieselsteine, denn die Schweine bewegten sich nie vom Fleck und lagen nur da und warteten auf den nächsten Sautrank, behauptete die Berti. Also gingen die beiden Mädchen einhellig zum Bach, der ganz in der Nähe floss, von dem die Ziegen getrunken hatten und auch die beiden Kinder, als sie durstig geworden waren.

Sie fanden gleich, was sie suchten, zwei runde, bauchige Kiesel und ein paar kleine weißere nahmen sie auch mit. Das würden die Hennen sein. "Die sitzen halt da und legen grad Eier", erklärte die Berti. "Oh nein", behauptete die Städterin, "wenn sie Eier legen wollen, verziehen sie sich auf den Heuboden und suchen Verstecke", breitete die andere ihr frisch erworbenes Wissen aus. "Unsere weißen sitzen nebeneinander und legen grad oder sie brüten", hatte die Berti das letzte Wort.

"Darf der Vater net wissen"

Nur mit den Kühen wurde es jetzt schwierig, doch da wusste die Städterin Rat: Sie würden einfach vier, fünf schöne glatte Tannenzapfen suchen und Löcher hineinbohren und Äste hineinstecken. So würden die Kühe zu Beinen kommen. Die ersten Versuche misslangen, jedoch dann zog die Berti einen Feitel aus ihrer geräumigen Kitteltasche und wisperte: "Hat mir der Onkel geschenkt. Darf der Vater net wissen." Und mit diesem Messer bohrte die Berti schon ein Loch in den Zapfen und steckte triumphierend ein Stückchen Ast hinein. "Und Hörner kriegen sie auch", sagte das Stadtkind, und knapp vor der Spitze des Zapfens erhielten die Kuhköpfe auf dieselbe Art je zwei Hörner aufgesetzt.

Jetzt war alles fertig, die Weiden besetzt bis auf die der Ziegen und die Kinder hungrig. Die Berti griff noch einmal in ihre Kitteltasche und zog ein Tuch heraus, breitete es aus, und da lag die Wegzehrung, ein großes Stück Scherzel vom Brotwecken und ein Stück Käse. Nach einigem Zögern, einer Weile, in der sie das Stück Brot eingehend betrachtet hatte, brach die Berti ein Stück davon ab und reichte es der anderen; vom Käse gab sie nichts her, aber die andere wusste sich Rat.

Mittagsschlaf

Sie ließ sich das Brot schmecken und musste nur von dort, wo sie saß, sich nach allen Seiten dehnen und strecken, um rundum die Heidelbeeren zu erreichen, die noch nicht reif und noch nicht dunkelviolett waren und ihrem anderen Namen Schwarzbeeren noch nicht Ehre machten, jedoch schmeckten sie köstlich zum trockenen Brot.

Dann waren die beiden Kinder schläfrig, eine jede suchte sich einen nahen Moosfleck und streckte sich darauf aus und war auch schon eingeschlafen, bevor die Städterin noch richtig bemerkt hatte, wie die Sonne auf den Fichtennadeln über ihr spielte. Sie wussten nicht, wie spät es war, als sie beide fast gleichzeitig wieder erwachten. "Jetzt ist’s Zeit zum Arbeiten", sagte die Berti streng und schlug den Weg zu einem nahen, schon von Unterholz überwachsenen Schlag ein, gehorsam gefolgt von dem Stadtmädchen und den Ziegen.

Erdbeeren für das Stadtkind

Nun begann das Erdbeerpflücken. Es gab unendlich viele davon, von überallher leuchtete es rot. Hier und da war eine Bewegung im nahen Grün, und ein Rascheln war hörbar. "Gibt’s Schlangen da?", fragte das Stadtkind. "Weiß nicht", sagte die Berti, "aber der Onkel sagt, vor dem Menschen flüchten alle Tiere, und das wird auch für die Eidechsen und die Schlangen und sogar für die Kreuzottern stimmen." Aber die Städterin war doch vorsichtig geworden und gab genau acht, wo sie hingriff.

Nach und nach war die Aluminiumkanne ganz voll geworden, in der Höhlung des silbrigen Metalls schimmerte verheißungsvoll das Rot der Erdbeeren.

Am Heimweg

"Und jetzt gemma heim", sagte die Berti. Und das taten sie auch. Jetzt erst, auf dem Weg zurück, fiel es der Davongelaufenen plötzlich ein: Die Mutter! Hatte sie furchtbare Angst ausgestanden, als ihr Kind nirgendwo zu finden war? Hatte sie vielleicht geschluchzt und die Nachbarn um Hilfe gebeten? Oder hatte sie gar die Polizei verständigt oder die Ortsfeuerwehr? Vielleicht würde morgen ein langer Artikel im Bezirksblatt über sie, die Durchgegangene, stehen: "Urlaubsgast verschollen und glücklich wiedergefunden". Und würde vielleicht neben dem Text ein Bild von ihr sein? Aber nein, die Mutter hatte sicher kein Foto von ihr dabei, ganz sicher aber eines vom kleinen Bruder im Portemonnaie.

Es war nicht zu ändern: Sie kamen den Behausungen näher und näher, und jetzt waren sie schon da. Wie jeden Abend betrat die Berti, während die Ziegen auf sie auf der Straße warteten, im Gästehaus die Küche und stellte schweigend die Milchkanne auf den Tisch. "Wie schön die Erdbeeren heute sind. Heute nehme ich das alles", sagte die Mutter und zu den Kindern gewandt: "Weil morgen euer Vater kommt, und der isst gezuckerte Erdbeeren so gerne." Wie jeden Abend fragte die Mutter die kleine Hirtin, was sie denn schuldig sei, und die Berti rechnete blitzschnell in ihrem Kopf und verlangte dann auf Schilling und Groschen die berechnete Summe, ohne zu beachten, dass sie selbst ja nur die Hälfte der Erdbeerfrüchte gepflückt hatte.

Unbemerkt

Dann war die Berti mitsamt ihren Ziegen fort. Die Sommerfrischler saßen zu dritt in der Küche und aßen ihre Brote, dazu bekamen die beiden Kinder die frisch gemolkene Milch von nebenan. Und jetzt stellte sich heraus, dass die Mutter und der kleine Bruder den Sommertag auf die gewöhnliche Art verbracht hatten, mit Badeanstalt und Mittagessen und Siesta und Strandcafé und Promenade, und die Mutter fragte gar nicht, wo ihre Tochter den Tag über gewesen war. Sie war ja einfach am Abend wieder aufgetaucht.

Am nächsten Morgen gleich nach ihrem Frühstück war der Vater aus der Stadt angekommen. Es wurde für ihn frisch gedeckt und sein Frühstück nachserviert, dazu die Erdbeeren vom Vortag. Der Vater fragte, was denn die Woche über so bei ihnen gewesen sei, und die Mutter erging sich in Lobpreisungen ihres kleinen Sohnes, der mit viereinhalb Jahren schon das Schwimmen gelernt hatte und gestern, man stelle sich das nur vor, die ganze Strecke zwischen Badesteg und Bootssteg ganz frei und ohne Korkgürtel schwimmend bewältigt habe.

Ein guter Tag

Der Vater hörte sich das an, strich dem kleinen Sohn über den Kopf und sagte in seiner kurz angebundenen Art: "Gut gemacht, gut gemacht." Als eine kleine Pause entstanden war, sagte die Tochter: "Und ich war mit der Berti von nebenan und mit ihren Ziegen den ganzen Tag im Wald. Und es war schön!" Der Vater antwortete: "Na, dann hast du ja auch einen guten Tag gehabt." Dann waren alle still, und die Mutter lächelte das Lächeln, das der Vater immer "das Lächeln der Sphinx" nannte. Und dann nahm sich der Vater noch einmal von den Erdbeeren. (Ilse Helbich, 22.10.2022)