Autorin Friederike Gösweiner.

Foto: Thomas Larcher

"Immer", schreibt Ilse Helbich, "wenn ich über das Gehen, oder über das Träumen, oder über das Suchen und Finden schreibe, bin ich zuhause in einer Zone durchsichtiger Klarheit."

Ilse Helbich, "Anderswohin. Vom Träumen, Suchen und Finden". € 18,–
/ 96 Seiten. Droschl, Graz 2022
Foto: Anderswohin: Droschl

Entzieht sich Anderswohin literarischer Kritik? Nein. Und doch. Erst im Aufsehen erregenden Alter von 80 Jahren veröffentlichte die im Oktober 1923 geborene Ilse Helbich ihren ersten Roman. Davor hatte die promovierte Germanistin lange als Journalistin, Übersetzerin und Radioautorin gearbeitet. Vergangenes Jahr erschien von der 98-jährigen Wienerin, die seit Jahrzehnten in Schönberg am Kamp ein Haus bewohnt, ein Bändchen über Gelassenheit. Darin findet sich der Satz "Das Wissen um den Tod steht vielleicht im Hintergrund jeder Gelassenheit". Vor zwölf Jahren gab sie Grenzland Zwischenland den Untertitel Erkundungen.

Auch Anderswohin, im Titel wiederum mit einem anderen Band Helbichs korrespondierend, mit Diesseits, darin alle ihre Erzählungen zusammengeführt sind, enthält Erkundungen, Umkreisungen, Einkreisungen. Gedanken über Leben und Traum. Über Vergänglichkeit und Vergehen und Verlöschen, etwa des Augenlichts. Es geht um Gedächtnis, Gewesenes, Geheimnis. Und immer wieder über das Schreiben, Diktieren, Aufbewahren. Ilse Helbichs Sicht und Sprache sind direkt, bedrängend, ergreifend. Viele Sätze will man sich anstreichen und herausschreiben, viel zu viele sind es dann am Ende, anmutige, einfache, kluge, poetische, reiflich abgewogene, die eben nicht für unreif von ihr befunden worden sind. Vor Jahren schrieb sie: "nichts ist unabänderlich, nichts fest, alles fließend, kaleidoskopisch". So wie die Zeit und der in sich verstrudelte Lebensfaden. Den erst der Tod durchtrennt.

Friederike Gösweiner, "Regenbogenweiß". € 24,– / 344 Seiten. Droschl, Graz 2022
Foto: Regenbogenweiß: Droschl

Familienarchiv-Roman

Bei der in Innsbruck lebenden Friederike Gösweiner, 2016 für ihren Erstling TraurigeFreiheit mit dem Österreichischen Buchpreis geehrt, ist Leben abgekürzt. Mit dem plötzlichen Herztod von Hermann, Physiker, Ehemann, Vater zweier erwachsener Kinder, setzt das Buch ein. Dieser Verlust durchzieht als schwarz-roter Faden den gesamten Roman.

Er affiziert die Nächsten, Marlene, soeben als Lehrerin pensioniert und jäh Witwe nun, Tochter Filippa, Philosophin, zwischen zwei Hochschullehrstellen in Paris und London pendelnd wie zwischen Trauer, Habilitation und Kinderwunsch und fehlender Zeit, und Sohn Bob. Physiker wie der Vater, hat er sich allerdings auf ein anderes Subgebiet spezialisiert, auf "Zeitforschung". Im Postdoc-Stadium stagniert seine Karriere, ihm wird bei einer Neubesetzung eine Frau vorgezogen, er zieht sich zurück auf eine griechische Insel, lässt Fatalismus, Ohnmacht, Wut, und Angst freien Lauf.

Es ist ein Familienarchiv-Roman, eine Familienaufstellung über Großes – Weltdeutung, Orientierung in der Welt, Denklebenssysteme – wie über etwas eigentlich Unmögliches: das Verarbeiten des Todes eines allernächsten Menschen. Gösweiner hat ein trauriges Buch geschrieben über gelingendes glückliches Leben, zumindest über das hartnäckige Fragen darnach. Gelegentlich vertraut sie dem Erzählen zu wenig und gleitet hinüber in akademische Debatten und ebensolchen arg trocken anmutenden Nischen-Jargon. Tiefenmelancholische Seelenauslotung kommt da zu trist zu kurz.

Teresa Kirchengast, "Das Glück im Großen und Ganzen". € 18,– / 200 Seiten. Edition Atelier, Wien 2022
Foto: Glück im Großen und Ganzen: Atelier

Suche nach Glück

Glück, ach. Ach, Glück. Achtung Glück! Teresa Kirchengasts neuer, in feste Broschur gebundener Sommer-Roman Das Glück im Großen und Ganzen handelt von der fluiden Materie, diesem Irgendwie-Flair, diesem Happiness-Ding oder so. Drei Freundinnen, noch twentysomethings, alle unverheiratet, alle kinderlos, teilen sich eine Wohnung. Es ist Sommer. Das Leben ist leicht. Das Leben franst aus, nicht nur klimatisch.

Alle drei, Anke, Konditorin und Bäckerin mit einem Ungustl als Chef, sorg- und rastlos, die Schuhmacherin Molly, erklärte Philanthropin und explizite Eigenfreiheitskontrolleurin, und Marie, die kurz vor dem Abschluss ihrer akademischen Abschlussarbeit über österreichische Schimpfwörter steht, suchen trotz Partner noch immer den idealen Partner. Den, mit dem sie glücklich sein werden, endlich.

In diesem leicht daherkommenden Buch wird viel, ganz viel geredet, debattiert, kommt vieles aufs Tapet, Stadt und Land, Schönheit und Abneigung, Stillstand und Weiterentwicklung, emotionale Schlichtheit und tiefe Komplexität, Naivität und Raffinesse. Sie alle sind immer wieder am Schwimmen. Am Anfang, in der Mitte und am Ende ist Glück immer noch etwas Hypertrophes, im Kleinen und Großen, in Teilen, im Entscheiden, in der Suche und im Glauben.

Helga Glantschnig, "Aus dem Land der Seen und Teiche. Schwimm- und Eislaufnotizen 2015–2017." € 20,– / 176 Seiten. Klever, Wien 2022
Foto: Aus dem Land der Seen und Teiche: Klever

Leben-Machen

Die Kärntnerin Helga Glantschnig macht dies buchstäblich in und um Klagenfurt herum, schwimmen. Sie geht schwimmen. Und sie geht winters eislaufen. Neuerlich ist dies ein Band der Zeit-Mitschrift, des Zeitverlauf-Mitschreibens. Über exakt zweieinhalb exakt angegebene Jahre, vom 21. April 2015 bis 19. Oktober 2017. Die Notate scheinen oberfläc

hlich zu sein: im Hötzendorfer See mit zwei anderen Schwimmerinnen; der Himmel ist bewölkt; einen Herbsttag lang ist wieder Sommer; im Millstätter See ist sie fast allein beim Schwimmen. Doch dann webt Glantschnig Zitate und montiert Gedichtpassagen hinein, Reflexionsflächen ähnlich der liquid beweglichen Oberfläche der Seen im Sommer und des vereisten Irisierens im Winter. Erleben geht bei Glantschnig über Protokollieren hindurch in ihre Sätze und Tagesblöcke ein. Es geht ihr um Leben, um Vita activa, um das Tun im Leben wie ums Leben-Machen.

Simon Sailer, "Der Schrank". € 18,– / 104 Seiten mit Abbildungen. Edition Atelier, Wien 2022
Foto: Der Schrank: Atelier

Fantasiebegabung

Der Auftrag in Simon Sailers Erzählung Der Schrank klingt nicht nach Kunst, sondern nach Routine. Ein Kasten ist aus einem Haus in einem gehobenen Wiener Bezirk in die Innere Stadt zu transportieren. Für Möbelpackerin Lena Kovac und Kollegen Yilmaz Standardprozedur, letzter Auftrag des vollgepackten und schlechtbezahlten Arbeitstages. Wäre da nicht der ihnen zugeteilte trinkfreudige Kollege, der sie aufhält. Und jäh Durst verspürt. Und dann verschwindet. Dafür tauchen Tiere auf, immer mehr Tauben. Schließlich verschwindet auch Yilmaz. Und Wien wimmelt nur so von Tieren. Was ist los? Wie verschoben und ausgehängt ist die Stadt, wer nur hat die Welt umgekippt wie in Daphne du Mauriers Story The Birds, die 1952 ausgerechnet im Magazin Good Housekeeping erstveröffentlicht wurde, oder wie in John Wyndhams Triffids? Am Ende geht alles unter, verlöscht danubial.

Simon Sailers Der Schrank bildet eine Quasitrilogie mit Die Schrift und Das Salzfass. Für diese Erzählung wurde Sailer 2021 der Clemens-Brentano-Preis zuerkannt. Brentano-Preis? Der E.T.A.-Hoffmann-Preis wäre passender. Auch weil der "Schauer-Romantiker", so die Hoffmann gedankenlos angepickte Bezeichnung, ein hochfantasiebegabter Aber-Anti-Welt-Autor und Zeichner war. Der Verlag hat dem stabil gebundenen Bändchen eine Fülle an grandios ergänzenden Farbabbildungen mitgegeben, die mit Sailers leichtfüßiger Prosa wundersam abseitig korrespondieren.

Dieter Sperl, "An so viele wie mich. Traumnotizen". € 23,– / 200 Seiten mit Abbildungen. Ritter-Verlag, Klagenfurt 2022
Foto: An so viele wie mich: Ritter

Ungebärdig träumen

Der aus Wolfsberg stammende, seit langem in Wien lebende Dieter Sperl hat in den letzten 25 Jahren eine ganz originäre Dichtungsform er- und ausgesponnen. Daneben und währenddessen ediert er den jedes Mal inhaltlich wie typografisch-gestalterisch aufregenden Literaturfolder Flugschrift, an der Schnittstelle von Sprach- und Bilderwelten positioniert.

In Sperls Band Von hier aus von 2012 mit dem Untertitel Diary Samples hieß es ziemlich am Beginn: "Dieses Buch, dessen Titel sich über die Jahre mehrmals verändert hat, empfand ich stets als ein mein Leben und Schreiben begleitendes Arbeits-, Traum- und Gedankenjournal."

In seinen Halbschlaf-Notizen an die vielen Ichs, in denen Bekanntes ins Unbekannt-Mysteriöse verwischt, in denen Trump und Jean-Paul Belmondo (im Lavanttal!) auftreten, Nahrungsmittel metamorphosieren – und wie so oft sind auch hier zwischen die Texte Abbildungen eingestreut –, ist Österreich ein Traum. Manchmal ein kubinesk grinsender Alb.

Wie meinte vor mehr als 240 Jahren Georg Christoph Lichtenberg, als Physik-Ordinarius wie als Autor ein Multiversum, und dabei nur etwas über 1,40 Meter klein? "Ich mag", schrieb er in einer seiner wuchernden Aufzeichnungen, die er als "Sudelbücher" titulierte, "immer den Mann mehr lieben, der so schreibt, wie es Mode werden kann, als den, der so schreibt, wie es Mode ist." Ein Satz, der hierzulande auf kaum jemanden so sehr passt wie auf den ungebärdig träumenden Dieter Sperl. (Alexander Kluy, 15.10.2022)