Timokleia, Medusa und Artemisia Gentileschi – die Ahninnen heutiger Aktivistinnen.

Illustration: Ricarda Opis

Es gibt ein Gesicht, das in sekundenkurzen Videos auf Tiktok und Instagram mittlerweile beinah so oft auftaucht wie in Museen. Ein toter Blick, ein wie im Schrei verzogener Mund und Schlangen, die über Stirn und Schläfen züngeln. Es ist Medusa, die zum Monster verwandelte Frau. Ihr Porträt ist im Netz meist als Tattoo zu sehen. Die begleitenden Texte sind kurz und kryptisch. "Mein Medusa-Tattoo", steht etwa dabei und in den Kommentaren dazu dutzendfach: "Es tut mir so leid."

Die mythologische Figur ist in den letzten Jahren zu einem Code geworden: für Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt und überlebt haben. Das liegt nahe. Bei Ovid stellt der Gott Poseidon der schönen Medusa nach und vergewaltigt sie im Tempel der Athene. Die Göttin ist erbost über diese Entweihung ihres Heiligtums. Sie straft nicht etwa ihren Brudergott, sondern verwandelt Medusa in ein Monster mit glühendem Blick und Schlangenhaaren. Wer ihr von nun an in die Augen blickt, erstarrt zu Stein.

Figuren im Spiel der Götter

Es ist eine von zahlreichen Gewaltgeschichten aus der griechischen Mythologie. Da gibt es Danaë, über die Zeus als Goldregen kommt. Nemesis, die er als Schwan vergewaltigt, Persephone, in deren Schoß er als Schlange gleitet, und Europa, die er als Stier entführt. Es gibt Nymphen, die als letzte Rettung vor ihnen nachstellenden Göttern verwandelt werden. In Bäume, Flüsse oder Sternbilder, befreit von ihren schutzlosen Körpern.

In diesen Erzählungen sind die Frauen bloße Figuren im Spiel der Götter. Sie sind die Objekte von Zeus' Lust und List, die Opfer von Heras Eifersucht und die Gefäße zur Geburt des nächsten Helden oder Halbgotts. Viele ihrer Geschichten wurden mit der Zeit zu Liebschaften abgeschliffen oder so erzählt, dass ihr Schicksal kaum eine Rolle spielt. Der Mythos der Medusa ist anders.

Sie erfährt keine Gerechtigkeit, gilt nicht als Opfer oder fühlendes Wesen. Doch ihre Kraft schimmert durch den Mythos: Durch eine List getötet, wird ihr Kopf zum wertvollen Talisman. Selbst nach ihrem Tod kann ihr niemand in die Augen sehen, ohne zu versteinern. Und aus ihrem geschundenen Körper entspringt das geflügelte Pferd Pegasus. Medusa ist wütend, gefährlich und wehrhaft. Damit ist sie eine von wenigen, aber immer schon da gewesenen Frauen und Frauenfiguren dieser Art.

Der Künstler Luciano Garbati dreht in seinem Werk "Medusa mit dem Kopf des Perseus" die Rollen um.
Foto: AFP / Michael M. Santiago

Timokleia und der tote Hauptmann

Auch Timokleia ist eine von ihnen. Plutarch erzählt ihre Geschichte zweimal, in seiner Biographie Alexanders des Großen und in seinem Werk "Mulierum virtutes". Demnach ist Timokleia eine wohlhabende Frau aus der antiken griechischen Stadt Theben. Als Alexanders Heer die Stadt erobert, dringt ein Trupp auch in Timokleias Haus ein. Ein thrakischer Hauptmann vergewaltigt sie. Anschließend fragt er sein Opfer nach Wertgegenständen – was seine Männer bisher gefunden hätten, könne doch nicht alles sein.

Timokleia stimmt zu. Bevor die Stadt fiel, erzählt sie ihrem Vergewaltiger, habe sie Gold und Silber in einem trockenen Brunnen auf ihrem Grundstück versteckt. Sie führt ihn durch den nächtlichen Garten hin. Als der Mann sich vorbeugt, um auf den Grund des Brunnens zu blicken, stößt sie ihn hinein. Timokleia schleudert Stein um Stein in den Schacht, bis sich der Hauptmann nicht mehr rührt. Als man seine Leiche findet, führt man Timokleia zu Alexander.

Statt um Gnade zu bitten, erklärt sie dem Heerführer ungerührt, dass ihr Bruder im Kampf gegen seine Truppen gestorben sei – für die Freiheit Griechenlands. Alexander, so erzählt es Plutarch, ist von ihrem Mut so beeindruckt, dass er sie ohne Strafe ziehen lässt und sie unter seinen Schutz stellt.

Timokleia hat Handlungsmacht. Das unterscheidet diese Geschichte von vielen anderen. Oft genug wird das Unrecht zwar erkannt und benannt, den Opfern aber keine Möglichkeit geboten, sich zu wehren.

Die schutzlose Susanna

Eine solche Erzählung ist die altrömische Legende von Lucretia. Die tugendhafte Ehefrau wird von einem Kameraden ihres Mannes erpresst und vergewaltigt. Ihr Mann und ihr Vater geben ihr keine Schuld, doch Lucretia nimmt sich selbst das Leben. Sie weiß, dass sie vergewaltigt wurde, sie weiß, dass sie keine Schuld trifft – aber sie sieht sich dennoch als Ehebrecherin. Lucretia stirbt, weil sie nicht will, dass andere "Ehebrecherinnen" unter Verweis auf sie am Leben bleiben. Die Erzählung entsteht in einer Zeit, in der Augustus eine Strafrechtsreform plant, die Ehebrecherinnen mit dem Tod strafen soll. Lucretia soll ein Vorbild sein, ihre Geschichte ein Lehrstück. Doch sie erzählt auch vom Leben einer Frau in einer Gesellschaft, die ihr weder Schutz noch Gerechtigkeit gewährt.

Ähnlich ergeht es der biblischen Susanna. Die junge Frau wird, im Garten badend, von zwei Ältesten bedrängt. Als sie sich wehrt, bezichtigen sie sie vor versammelter Gemeinde des Ehebruchs mit einem erfundenen Dritten. "Und die ganze Synagoge glaubte ihnen, da sie Älteste waren und Richter des Volkes", steht im Buch Daniel. Erst eine göttliche Eingebung führt dazu, dass der Prophet Daniel Susanna retten kann, als sie schon zum Tode verurteilt ist. Susanna und Lucretia haben ihren mythologischen Schwestern voraus, dass sie als Opfer erkannt und anerkannt werden. Trotzdem bleiben sie passiv und schutzlos in einem Gewirr göttlicher Fügungen und menschlicher Niedertracht.

Über die Jahre wird "Susanna im Bade" zu einem beliebten Motiv in der Kunst. Im Jahr 1610 nimmt es sich die jugendliche Artemisia Gentileschi vor. Sie ist die Tochter eines toskanischen Malers und von Kindesbeinen an in seinem Atelier aufgewachsen. Artemisia besitzt unleugbares Talent – und einen klaren Blick für den Menschen hinter dem Mythos. Ihre Susanna sitzt nicht als eleganter Akt in einem paradiesischen Garten, die Alten nicht im Gebüsch. Ihre Susanna schlägt um sich, während die Alten versuchen, sie am Haar über eine Mauer zu zerren. Kein Schmuck, keine sich rankenden Pflanzen, kein Hintergrund voll prächtiger Bauten. Nur ein grauer Himmel, eine graue Mauer und der Kampf der Susanna.

Viele ihrer männlichen Kollegen wählen solche Motive als Möglichkeit, Akte malen zu können. Auch Artemisia Gentileschi kehrt in ihrer künstlerischen Karriere immer wieder zu ihnen zurück. Doch sie gibt den Frauen in ihren Kunstwerken die Kraft, Handlungsmacht und Emotion, die ihnen abgesprochen wurde. Ein Grund dafür dürfte in ihrer eigenen Geschichte liegen.

"Judith mit dem Haupt des Holofernes", in zweifacher Ausführung von Artemisia Gentileschi.
Foto: Reuters / Hannah McKay

Das zweite Gesicht der Judith

Als sie achtzehn Jahre alt ist, wird Artemisia von einem Kollegen ihres Vaters vergewaltigt. Ihre Hilfeschreie bleiben ungehört, obwohl weitere Menschen im Haus anwesend sind. Vergewaltigung ist im Italien dieser Zeit nicht strafbar, wohl aber die Entjungferung einer Frau ohne anschließende Heirat. Artemisias Vergewaltiger verspricht ihr darum die Ehe. Doch er ist bereits verheiratet. Erst nach Monaten zieht ihr Vater schließlich vor Gericht. Es ist Artemisia, nicht der Täter, die anschließend unter Folter befragt wird. Der Mann wird schließlich verurteilt, seine angeordnete Verbannung aber nie vollzogen. Artemisia selbst wird rasch an einen Bekannten verheiratet, um ihre Ehre zu retten.

Ihren Schmerz und ihre Wut gießt die junge Malerin in die Gesichter mythologischer Frauen. So zeigt eines ihrer bekanntesten Werke die Enthauptung des Holofernes. Im alten Testament sucht die Israelitin Judith das feindliche Lager auf, wickelt den Heerführer Holofernes um den Finger und enthauptet ihn anschließend an seinem Bett. Die meisten Bilder zeigen Judith mit dem Haupt des Holofernes in ihrer Hand oder einem Korb an ihrer Hüfte. Artemisias Bild ist anders, brutal. Der blutüberströmte Holofernes ist im Todeskampf auf seinem Bett zu sehen. Und Judith, die das Messer an seine Kehle drückt, hat Artemisias Gesicht.

Kunsthistoriker:innen deuten das Werk als Verarbeitung ihrer Vergewaltigung. Neben dem Selbstporträt deutet darauf ein weiteres Indiz hin. Die mordende Judith trägt ein aus Zeit und Kontext der gemalten Geschichte gefallenes Armband. Es zeigt die jungfräuliche Göttin Artemis, Namenspatronin der Malerin und Beschützerin der Frauen. In ihren Werken gibt Artemisia Gentileschi nicht nur den weiblichen Figuren, sondern auch sich selbst die Handlungsmacht zurück. (Ricarda Opis, 16.10.2022)