Auch in Hongkong wächst seit der Unterdrückung der Demokratiebewegung wieder Personenkult rund um Xi Jinping
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Wenn die Kommunistische Partei Chinas am Sonntag in Peking zu ihrem Nationalkongress zusammenkommt, dann geht eine Ära zu Ende, die im Dezember 1978 begonnen hatte, als Deng Xiaoping sich nicht nur von Mao Tse-tungs katastrophaler Planwirtschaft, sondern auch von seiner Einmannherrschaft verabschiedete. Mit staatlich gesteuertem Kapitalismus und einer kollektiven politischen Führung ist China seither zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und einer politischen Großmacht aufgestiegen. Noch nie wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit aus der Armut in die Mittelschicht geführt, noch nie ist eine Nation so rasch zu einem unentbehrlichen Handelspartner für den Globus, allen voran die USA und Europa, geworden. Aber von Anfang an gab es Zweifel, ob dieses enge Geflecht an Wirtschaftsbeziehungen wirklich im Interesse des Westens ist – oder ob China sich nicht als Wolf im Schafspelz erweisen wird, der Wohlstand und Sicherheit mehr bedroht als fördert.

Westliches Dilemma

Unter Präsident Xi Jinping sind seit 2012 viele dieser Warnungen wahr geworden: der Staatsapparat repressiver, die Außenpolitik aggressiver und die Wirtschaft weniger frei. Und aus dem Kollektiv an KP-Funktionären hat Xi eine Alleinherrschaft geformt, die nun auch keine zeitliche Beschränkung mehr kennt. Statt wie seine Vorgänger nach zehn Jahren seine Ämter zu übergeben, wird Xi seine Macht am Parteitag weiter festigen.

Das stürzt den Westen in ein Dilemma und zwingt ihn, zentrale Annahmen der China-Politik zu überdenken. Doch anders als bei Wladimir Putins Russland, das jeden Anspruch auf Partnerschaft verwirkt hat, passt China immer noch nicht in ein simples Freund-Feind-Schema. Das Reich der Mitte wirft für die Welt Fragen auf, die nicht so leicht zu beantworten sind.

Wohlstand oder Macht

Was will China?, fragten sich Politiker und Expertinnen seit Beginn der Reformpolitik in den 1980er-Jahren. Versucht Deng die wirtschaftliche Rückständigkeit seines Landes zu überwinden, um seinen Landsleuten zu einem besseren Leben zu verhelfen – so wie es westliche Demokratien anstreben? Oder will er mit dem Wachstum nur die Macht der Partei im Inneren absichern und China in der Welt zurück zu alter Größe verhelfen? Die Hoffnung auf eine durchgreifende Liberalisierung nach dem Vorbild von Staaten wie Südkorea und Taiwan zerschlug Deng bereits mit der brutalen Niederschlagung der Studentenproteste am 4. Juni 1989. Aber in den folgenden Jahren gelang es ihm und seinen Nachfolgern, politische Kontrolle und ein freies Unternehmertum unter einen Hut zu bringen – mit spektakulären Erfolgen. Auch international gab sich China als konstruktiver Partner, der Völkerrecht und andere globale Spielregeln einhält.

Das änderte sich alles unter Xi, wobei sein neuer Stil kein Zufall war. Wie der britische Economist in seiner Podcastserie The Prince erläutert, war unter den Parteieliten unter der Führung des farblosen Hu Jintao (2003–2013) die Angst gewachsen, dass die KP die Kontrolle über eine zunehmend liberale Gesellschaft verliert. Xi erfüllte den Wunsch nach einem starken Führer – vielleicht mehr, als es sich mancher Funktionär gewünscht hatte, der nun wegen Korruption verfolgt wird.

Xi Jinping bei einer Rede in der Großen Halle des Volkes
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Parteizwang

Von seiner Rhetorik, aber auch von seiner Politik her zu schließen sind für Xi Macht und Ideologie wichtiger als ökonomische Vernunft. Das zeigt sich schon bei den teuren und oft sinnlosen Investitionen im Rahmen der neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative – BRI), aber auch an den absurd stringenten Covid-Lockdowns, die das jahrelange Rekordwachstum zum Stillstand gebracht haben. Erfolgreiche Unternehmer wie Alibaba-Gründer Jack Ma wurden an die Kandare genommen und mussten sich der Partei unterordnen; einige verloren ihre Freiheit. Der jahrzehntelange Konsens, wonach die KPC für wachsenden Wohlstand sorgt und die Menschen dafür auf politische Freiheiten verzichten, droht zu zerbrechen.

Xi scheint viel mehr getrieben zu sein von einem tiefen Ressentiment gegenüber dem Westen, allen voran den USA, und womöglich auch dem Ehrgeiz, die US-geführte Weltordnung durch eine unter chinesischer Dominanz zu ersetzen. Allerdings orten China-Experten wie Eduardo Morcillo von Interchina auch unter Xi eine zielgerichtete Strategie für Wachstum. Denn das brauche das Regime weiterhin zum Überleben.

Handel oder Sicherheit

Der Wandel unter Xi hat auch im Westen ein Umdenken ausgelöst. Schon seit den 1990er-Jahren gab es Stimmen, die China eine unfaire Handels- und Investitionspolitik vorwarfen, weil Unternehmen dank staatlicher Subventionen zu billig exportieren könnten, die eigenen Märkte oft verschlossen bleiben und Firmen das geistige Eigentum von westlichen Joint-Venture-Partnern dreist rauben würden. Dazu kam der Vorwurf, China würde die eigene Währung bewusst unterbewerten, um so Wettbewerbsvorteile im Export zu erringen. Diese Kritik wuchs nach dem Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001, der das Exportvolumen explodieren ließ.

Aber Chinas billige Produkte hielten die Inflation niedrig, und der chinesische Markt wurde für europäische Unternehmen immer bedeutsamer und profitabler. Chinas Industrie ist aus den weltweiten Lieferketten gar nicht wegzudenken, das Land der wichtigste Handelspartner für die USA und die EU. Selbst dort, wo anderswo ganze Industrien verlorengingen, etwa bei der Produktion von Solarpaneelen in Deutschland und den USA, war es ein Gewinn: Erst durch billige chinesische Paneele wurde die Photovoltaik wettbewerbsfähig.

Unruhe im Westen

Doch seit einigen Jahren wächst die Sorge, dass China einerseits eine merkantilistische Strategie zur Eroberung von Hochtechnologiebranchen verfolgt, die den USA und der EU langfristig schaden wird – und außerdem mit seinen Investitionen geopolitische oder gar militärische Ziele verfolgt. Die Aussicht, dass kritische Komponenten für die 5G-Netzwerke von Huawei geliefert werden, machte Angst. Eröffnet das nicht Peking die Möglichkeit, im Konfliktfall die Mobilnetzwerke im Westen lahmzulegen? Zunächst in den USA und dann auch in Europa wurde der chinesische Telekomausrüster ausgebremst – trotz seiner überlegenen Technologie und niedriger Preise. Mit Investitionskontrollgesetzen versuchen nun die EU-Staaten, potenziell riskante chinesische Investitionen zu blockieren. In den USA hat Präsident Joe Biden vergangene Woche drastische Einschränkungen für den Export leistungsstarker Computerchips und Chiptechnologie verkündet, um Chinas Fortschritte im IT-Sektor zu bremsen.

Aber gleichzeitig setzen viele im Westen weiterhin auf den chinesischen Markt, auf Kapital und letztlich auch auf Innovationen, die Chinas Top-Unternehmen und -Universitäten hervorbringen. Kaum ein junger Mensch will heute auf Tiktok verzichten. Und eine drastische Einschränkung der Wirtschaftsbeziehungen würde nicht nur China, sondern auch den Westen ärmer machen.

Realpolitik oder Moral

Soll der Westen angesichts der Verletzung von Menschenrechten, der Verfolgung von Dissidenten und anderer Missetaten mit einer der brutalsten Diktaturen der Welt enge Wirtschaftsbeziehungen pflegen? Der Ruf nach einem Handelsembargo erschallte erstmals nach dem Massaker am Tian’anmen-Platz im Juni 1989; die Frage ist durch die Repression in Hongkong und die Unterdrückung der Minderheit der Uiguren in Xinjiang unter Xi wieder akut geworden. Aber stets behielten wirtschaftliche Interessen und das Primat der Realpolitik die Oberhand. Es würde niemandem etwas nützen, den bevölkerungsreichsten Staat der Welt mit einer so großen Wirtschaft auszugrenzen, hieß es. Schließlich brauche man China für regionale Stabilität oder globale Herausforderungen wie die Klimakrise.

Bis in die 2010er-Jahre lebte noch die Hoffnung, dass der wirtschaftliche Aufschwung in China zu einer politischen Liberalisierung oder gar Demokratisierung führen könnte. Das hat sich seither als Trugschluss erwiesen: Das Regime ist heute repressiver denn je. Stattdessen versuchen westliche Regierungen, ihre interessengetriebenen Beziehungen mit Peking mit humanitären Botschaften zu garnieren. Stets versichern sie vor hochrangigen Treffen, sie würden auch die Menschenrechte ansprechen. Geholfen hat das bisher nicht. China reagiert selbst auf die kleinste Einmischung in innere Angelegenheiten aggressiv; es gelingt ihm so, kritische Stimmen aus dem Ausland zum Schweigen zu bringen. Auch der Dalai Lama wird im Westen immer seltener empfangen, weil sich Regierungen vor Chinas Rache fürchten.

Die Frage stellt sich auch in den Beziehungen zu Taiwan – de facto ein unabhängiger Staat mit einer lebendigen Demokratie, dem aber aus Rücksicht auf China die Anerkennung verwehrt wird. Selbst auf kleinste Gesten reagiert Peking mit Repressalien, die beim Besuch der US-Kongress-Präsidentin Nancy Pelosi in Taipeh in tagelange aggressive Militärmanöver gegen Taiwan mündeten. Auch hier empfehlen Experten, auf alles zu verzichten, was Peking reizen könnte, weil dies auch Taiwan gefährdet. Andere Stimmen warnen den Westen hingegen davor, sich von China einschüchtern zu lassen.

Arroganz oder Universalismus

Steht es westlichen Regierungen und Kommentatoren überhaupt zu, ihre politisch-moralischen Vorstellungen Ländern wie China aufzudrücken? Die dortigen Eliten sehen das als Bevormundung, sogar als neuen Kolonialismus. China sei schließlich anders, liberale Demokratie nicht mit seiner Kultur vereinbar, Stabilität und die Befriedigung materieller Bedürfnisse den Menschen wichtiger als politische Freiheit. Tatsächlich scheint die KPC breite Unterstützung im Volk zu genießen, wobei die seit einigen Jahren immer lautere Propaganda und der Persönlichkeitskult um Xi Jinping es schwer machen, die tatsächlichen Meinungen zu messen. Vertreter Chinas betonen auch regelmäßig, dass ein 1,4-Milliarden-Einwohner-Staat nur mit starker Hand regiert werden kann; Demokratie würde ins Chaos führen und die Einheit Chinas gefährden.

Auch im Westen hört man solche Argumente; gerade Wirtschaftstreibende kritisieren die Verurteilung Pekings als verständnislos und arrogant. Chinesen und Chinesinnen in Taiwan, in Hongkong, soweit sie noch frei sprechen können, und im westlichen Exil sehen das allerdings anders: Alle Menschen, egal wo sie leben, hätten ein Recht auf Freiheit und Demokratie.

Aufstieg oder Abschwung

Ob China unter Xi den Westen bedroht, hängt stark von der Entwicklung seiner Wirtschaft ab. Liefert das Modell von Diktatur und Staatskapitalismus weiterhin spektakuläre Wachstumsraten, dann steigt auch Chinas wirtschaftliche und politische Macht. Daran gibt es allerdings Zweifel. China ist zwar die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, liegt aber beim Pro-Kopf-Einkommen hinter der Türkei und Mexiko. Ohne offene Politik und individuelle Freiheiten werde es den Aufstieg in die Liga der reichen Staaten nicht schaffen, schrieben schon vor zehn Jahren Daron Acemoğlu und James Robinson in ihrem einflussreichen Buch Warum Nationen scheitern.

Sich neu erfinden

Unter Xi haben sich viele der negativen Seiten verstärkt: Repression, Isolation, Handelsstreit mit dem Westen, Spannungen mit Nachbarstaaten. Das werde Innovationen lähmen und die Wirtschaft schwächen, aber könnte das Land aggressiver machen, schreibt der Economist. Die niedrige Geburtenrate ist ein weiterer Risikofaktor: Chinas Gesellschaft droht zu vergreisen, bevor es sich das leisten kann. Dazu kommen ein marodes Bankensystem mit riesigen faulen Krediten und ein wackeliger Immobilienmarkt. Wegen der Lockdowns ist das Wachstum heuer überhaupt zum Stillstand gekommen.

Aber das chinesische Wirtschaftswunder wurde schon öfter für tot erklärt und hat sich jedes Mal neu erfunden. In Zukunftsbereichen wie künstlicher Intelligenz und erneuerbaren Energien hat China einen Vorsprung vor Europa und den USA. Was Deng einst begann, kann Xi nicht so leicht zerstören. (Eric Frey, 15.10.2022)

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