Vor dem Staatsweingut Milestii Mici sprudelt er, der Wein. Aus riesigen Flaschen fließen weiß und rot gefärbtes Wasser in überdimensionale Gläser in Brunnen. Ein Schlagbaum, ein Kontrollposten, umfunktioniert zu einem Informationszentrum. Hier führen sie in den Berg. Stollen, in Summe 200 Kilometer lang. Zum Teil haben sie sowjetische Häftlinge seit den 1950er-Jahren in den Hang unter das gleichnamige Dorf gehauen. Erst ging es um Kalkstein für den Aufbau Chisinaus. Seit den späten 1960er-Jahren aber ging es dann um das, was über der Erde die Landschaft dominiert: Wein.

Das Kombinat ist Staatseigentum. Auch heute noch. Neben der etwas bekannteren Weinkellerei Cricova ist es einer von zwei Betrieben dieser Art. Ein staatliches Weinbau-Schlachtschiff, das sage und schreibe drei Millionen Flaschen pro Jahr produziert – und zugleich ein Relikt, ein Überbleibsel aus einer anderen Epoche. "Schwerfällig und teuer", wie Viorel Garaz sagt. Viorel Garaz ist der Mann am Steuer dieses Dampfers. Er ist der Generaldirektor des Betriebs. Ein smarter junger Mann.

Türöffner

Den Betrieb unter seiner Leitung nennt er einen Eisbrecher, einen Türöffner. Und er hat große Pläne, dieser Viorel Garaz: Ein Restaurant unter Tage will er bauen, ein Hotel im Berg. Und international, so sagt er, soll das Kombinat moldauischen Wein bewerben – als Eisbrecher für die derzeit so vielen neu aufkommenden Kleinen in der Branche. Er steht in einem kahlen, gerade erst in den Stein gehauenen Raum im Kalkstein-Schutt und sagt: "Um zu sehen, wo wir uns hier befinden, müssen Sie hier nach oben sehen." Er deutet auf ein Loch in der Decke des Raumes. Ein Bohrloch, das zur Oberfläche führt. Nur ein kleiner heller Punkt wie ein Gestirn lässt Tageslicht erahnen.

Viorel Garaz managt das riesige staatliche Weingut Milestii Mici.
Foto: Matthias Schumann

Moldau, das ist bis heute das Land mit der größten Pro-Kopf-Weinbaufläche weltweit. Sage und schreibe sieben Prozent des Staatsgebietes sind Weinanbauflächen. Ein Viertel der Bevölkerung arbeitet direkt oder indirekt in Zusammenhang mit Wein. Seien es Logistik, seien es Transport oder Ernte, seien es technische Dienstleistungen.

Flüssiges Rückgrat

Wein, das ist das Rückgrat der moldauischen Wirtschaft. Ein flüssiges Rückgrat. Eines, das rasch zerrinnt, wenn mehr als 80 Prozent des Exports nach Russland gehen – Russland dann aber ein Embargo verhängt, weil in Moldau eine nicht genehme Regierung an die Macht kommt. 2008 gab es das erste Embargo. 2013 kam das zweite. Für Moldaus Weinwirtschaft hieß das: Sie musste sich von Grund auf neu erfinden. Und so sitzt sie da, oben auf dem unterkellerten Berg, am anderen Ende des Loches zur Oberfläche: Aleta Agrici.

Sie stellt Flaschen auf den massiven Holztisch in einem modernen Holz-Glas-Pavillon und holt weit aus über ihren Traminer, Sauvignon blanc, ihren Fetească Neagră – eine lokale Rotweinsorte – und ihren Rosé aus Rara Neagră und Cabernet Sauvignon. 80 Hektar baut sie an zusammen mit ihrer Mutter. Sie wandelt zwischen alten Stahltanks aus Sowjetzeiten und Barrique-Fässern, plaudert, scherzt.

Fasswein für den Weltmarkt

Zum Kombinat sind es keine zwei Kilometer zu Fuß. Luftlinie sind es ein paar Hundert Meter. Und die Stahltanks, die Werkshallen, das Verwaltungsgebäude, die riesigen Keller weiter unten auf dem Gelände, all das war einmal Teil des Kombinats. Ihr Vater hat dort gearbeitet. Im Zuge einer Teilprivatisierung in den frühen 1990er-Jahren hat er das heutige Familienimperium erstanden, um sein eigenes Business zu starten: Bulkwein, Fasswein für den Weltmarkt. Wein für die Masse. Je mehr, desto besser. So lief das damals. Aber dann: "Von einem Tag auf den anderen war alles weg", erzählt Aleta Agrici. Sie deutet auf ein unfertiges Gebäude neben den Stahltanks. Die Verwaltung hätte dort hinziehen sollen – ist sie aber nie.

"Museum des Embargos" nennt Aleta Agrici den Bau heute. Sie lacht. Denn sie hat ohnehin andere Pläne, als zu erweitern oder zu vergrößern. Seit sie ihren Management-Job in Chisinau gekündigt und den Betrieb übernommen hat, wird im Volumen reduziert – und dafür in der Qualität unter dem eigenen Markennamen "Agrici" ausgebaut. Nach wie vor geht ein Teil in das Bulk-Business – aber immer weniger. Leicht sei es nicht gewesen, diese Wende, diesen Generationen- und Kurswechsel zu vollziehen. Denn, so sagt sie: "Kleiner werden zu wollen, das ist nicht leicht zu erklären."

Ion Luca gründete einen Winzerverband für kleine Weinbauern in Moldau.
Foto: Matthias Schumann

"2013 sind viele Barrieren gefallen", so Ion Luca. Er hat 2009 den Winzerverband gegründet, einen Zusammenschluss kleiner Weinbauern. Damals waren es neun. Heute sind es 60. Und es war eben dieser Verband, der maßgeblich an einem neuen Weingesetz mitgeschrieben hat, das das Aufkeimen kleiner erst ermöglicht hat. "Danke, Putin", sagt er grinsend. "Den Wein, den wir damals produziert haben, den konnten wir nur nach Russland exportieren", sagt er und meint die Qualität. Und heute: Heute ist das Hochqualitätssegment die Messlatte vieler.

Wenn man in Chisinau heute jemanden auf ein Bier trifft, dann geht man auf ein Glas Wein und probiert sich durch den Kühlschrank einer der vielen Weinbars, debattiert nebst Politik oder Gossip dann auch Säure- sowie Zitrus- oder Beerennoten von Weinen, von denen unter Umständen wenige Tausend Flaschen abgefüllt werden. Wein ist überall. In jedem Dorf, in jedem Garten, in jedem Keller. Und auch in so mancher Garage.

Irrtümlich ins Michelin-Restaurant

Und so sitzt er da, in einer Industriegarage aus Sowjetzeiten am Stadtrand Chisinaus: Dan Prisacaru – T-Shirt, weite Hosen, Vollbart. 31 Jahre ist er alt. Zwei Alutanks und ein Paar Dutzend Eichenfässer, die im Inneren der Garage lagern, nennt er sein Eigen. Unter dem Markennamen "Minis Terrios". Als "eine Serie dummer Entscheidungen" bezeichnet Dan Prisacaru seinen Werdegang hierher in das Baustoffmarktviertel Chisinaus und lacht.

Dan Prisacaru lagert Wein in der Garage und füllt ihn dort ab.
Foto: Matthias Schumann

Da war ein geschmissenes Praktikum bei einem großen deutschen Weinproduzenten, da war die Idee, eigenen Wein zu machen, da war die Entscheidung, Land zu kaufen, um sich unabhängig davon zu machen, Reben von Zulieferern kaufen zu müssen, da waren gescheiterte Cuvée-Versuche, da war der "Unfall mit dem Zuckergehalt" in einer Charge – die dann aber zur Legende wurde. Eine Variante aus der lokalen Sorte Fetească Neagră, die dann irrtümlich nicht trocken, sondern halbtrocken wurde – es aber dadurch in Michelin-Restaurants schaffte. "Und jetzt", sagt Dan Prisacaru und reibt sich die Stirn, "geht es darum, diesen Fehler zu wiederholen." Er verdreht die Augen und lacht verschmitzt. Minis Terrios ist ein Wein-Start-up.

Gewollter Fehler

Derzeit produziert Dan Prisacaru 27.000 Flaschen pro Jahr – Tendenz steigend. Immerhin kann er bereits davon leben. Dabei hatte der Fehler mit dem Zuckergehalt, den er gemacht hat, mit einer Säule des neuen moldauischen Kleinwinzertums zu tun. Seit einer umfassenden Gesetzesänderung 2013 müssen kleine Betriebe keine eigenen Labore mehr besitzen, um den Zuckergehalt unter anderem bei der Fermentierung zu messen. Dan Prisacaru hat also kein eigenes Labor. Er musste auf das Testresultat warten – und da ist es dann passiert, wie er sagt.

Vor der Gesetzesänderung durfte auch nicht Wein in Wohngebieten produziert werden. Und da steht Dan Prisacaru jetzt also vor seiner Industriegarage am Stadtrand Chisinaus, raucht, spricht über die Namen seiner Weine, die er nach Figuren aus moldauischen Märchen benannt hat, die er seinen Kindern vorliest, und darüber, die Betonfläche vor den Einfahrten zur Partylocation zu machen – irgendwann.

Geschlossen: Moldaus Handelstor zur Welt

In Milestii Mici grübelt Viorel Garaz inzwischen, wie es mit dem Export nach China weitergehen kann, nach der Schließung des Hafens von Odessa im Zuge des russischen Krieges in der Ukraine. Bisher war Odessa Moldaus Handelstor zur Welt. Er grübelt, wie es mit dem Tourismus weitergehen kann, nachdem die Pandemie das aufkeimende Pflänzchen ratzfatz wieder zunichtegemacht hat. Fahrräder hat er angeschafft für die Gäste, die die Stollen besuchen wollen, und sogar einen Elektrozug hat er gekauft für Touren, damit die Besucher nicht mehr mit den Autos in die Stollen fahren.

Viorel Garaz ist zusammen mit dem damaligen Präsidenten des Kleinwinzerverbands Ion Luca einer der Architekten des Weingesetzes von 2012. Damals war er in der halb-staatlichen Weinbau-Interessenvertretung "Wine of Moldova" tätig. In den Betrieben, wie dem von Aleta Agrici oben auf dem Berg oder dem von Dan Prisacaru, sieht er keine Konkurrenz. Ganz im Gegenteil. Eine Bereicherung nennt er die Entwicklung der vergangenen Jahre. Und seinen Betrieb sieht er viel eher als einen Weinbotschafter Moldaus mit der Mission, eben für diese kleineren Produzenten den Markt aufzubereiten, denn als Koloss, der durch Masse seine Dominanz verteidige. Denn, wie er sagt: "All das hier kostet eine Menge Geld."

Er sitzt in einem unterirdischen Salon. Die Wände sind voller Flaschen. "Hier zu produzieren ist eben viel teurer als anderswo." Und das Einzige, was ein Betrieb wie dieser leisten könne, sei Weintrinkern rund um den Erdball klarzumachen, wo Moldau liegt und dass Moldau großartigen Wein produziere. (Stefan Schocher, RONDO, 21.10.2022)