Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine versucht man im Westen zu ergründen, was in Wladimir Putins Kopf vorgeht. Seine Entscheidungen der vergangenen Wochen haben nun einen Einblick in sein Denken gewährt. Der Herr des Kreml hat offensichtlich eine Angst und ein Ziel: Angesichts des katastrophalen Kriegsverlaufs fürchtet er um seine Macht – und alles, was er derzeit tut, dient dazu, sie zu erhalten.

Putins Problem ist, dass er von zwei Seiten bedroht wird. Auf der einen Seite steht die laute Lobby der Scharfmacher, die von ihm ein härteres Vorgehen in der Ukraine fordern. Um sie zu beschwichtigen, rief er die Teilmobilisierung aus, annektierte vier ukrainische Regionen und beschießt seit dem demütigenden Bombenanschlag auf die Kertsch-Brücke zur Krim ununterbrochen ukrainische Städte. Nichts von dem wird die Lage der russischen Truppen auf dem Schlachtfeld verbessern, sagen Militärexperten. Alles richtet sich an ein Publikum im eigenen Land.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine versucht man im Westen zu ergründen, was in Wladimir Putins Kopf vorgeht.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS/Gavriil Grigorov

Doch dort steht auf der anderen Seite die bisher stille Masse jener Bürgerinnen und Bürger, die Putins Krieg nur unterstützen, solange sie nicht selbst betroffen sind. Durch die Mobilisierung ist dies nicht mehr der Fall. Hunderttausende Männer sind ins Ausland geflüchtet, und seit die ersten Rekruten, die praktisch ohne Training und Ausrüstung an die Front geschickt wurden, in Särgen heimkehren, muss das Regime mit wachsendem Zorn in der Bevölkerung rechnen.

Der Kreml verliert die Kontrolle

Auch sie versucht Putin nun zu beschwichtigen, indem er ein Ende der Mobilisierung ankündigt. In Moskau wird dieser Schritt vorzeitig und abrupt umgesetzt. Anderswo aber werden Männer immer noch willkürlich aufgehalten und eingezogen – ein Zeichen, dass der Kreml die Kontrolle über Teile des Militärs verloren hat. Ein weiteres Abrücken von der totalen Kriegsbereitschaft würde Putins Autorität bei den Hardlinern wohl weiter schwächen.

Jeder Rückschlag gegen die Ukraine macht es Putin schwerer, zwischen diesen politischen Fronten zu lavieren. Seine schrillen Atomdrohungen helfen ihm dabei wenig, denn der Westen lässt sich davon nicht einschüchtern.

Wie viele andere Gewaltherrscher hat auch Putin die Fähigkeit, sich gegen breiten Widerstand an der Macht zu halten. Der Krieg würde dann noch lange weitergehen. Aber seine Heimatfront ist nicht mehr stabil – und sein Kampf zu Hause dürfte sein Handeln stärker bestimmen als die Lage an der Front. (Eric Frey, 19.10.2022)