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Wenn Worte Grenzen ziehen: Sprachlich können zwischen Vorarlberg und Wien, aber auch zwischen Simmering und Döbling Welten liegen.

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Infolge der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat der Staat nicht nur an Fläche, Einwohnern und Anstand, sondern auch an Vielfalt verloren. Letztere kommt jedoch in den vergangenen Jahrzehnten auf mancherlei Wegen wieder zurück.

Österreich war nie homogen, weder ethnisch noch religiös noch kulturell oder sprachlich. Es ist nicht alles Deutsch, was beim ersten Hinhören deutsch klingt. Selbst ein kursorischer Blick auf die schillernden Sprachlandschaften da und dort legt Wurzeln und Verzweigungen frei, die den Staat mit den einflussreichsten Zentren und mit den hintersten Winkeln des Planeten verbinden. Allerhand Exotisches hat sich eingeschlichen, Fremd- und Lehnwörter aus Nah und Fern und aus den Tiefen der Geschichte, teils deutlich sichtbar oder hörbar, teils gut versteckt, nebst manch ignorierten oder vergessenen Substraten, die nur noch die Linguistik herauszufiltern vermag.

Hinterlassenschaften

Aber abgesehen von allerlei Importen wird oft nicht bedacht, dass in der Verfassung das Deutsche zwar als Staatssprache verankert ist, außerdem aber Amtssprachen für einzelne Regionen festgelegt sind, das Kroatische, Slowenische, Ungarische, Tschechische, Slowakische sowie Romanes, die Sprache der Roma. Artikel 8 Bundesverfassungsgesetz sichert die Rechte der "autochthonen Volksgruppen". Aber was sind autochthone Volksgruppen? Ab der wievielten Generation ist man autochthon? Und was genau ist ein Volk? Im "Volksgruppengesetz" werden Wörter wie "Volkstum" und Formulierungen wie "eigenes Volkstum", "ihres besonderen Volkstums" geradezu zelebriert.

Sozialanthropologen stellen sich die Haare zu Berge bei solch vergifteten Begriffskombinationen aus der völkischen Mottenkiste. Aber sie sind wohl noch länger zu erdulden als eine Hinterlassenschaft der Monarchie – das geschrumpfte Österreich hat vom Habsburgerreich nicht nur die Sprachheterogenität, sondern gleich auch die Begrifflichkeiten geerbt.

Zwischen Favoriten und Hietzing liegen Welten

Doch hier soll das Land nicht ethnisch oder tribalistisch betrachtet werden, sondern linguistisch. Das Spektrum an Sprachen bereichern Dialekte und Idiome des österreichischen Standarddeutsch, die in ihrer phonetisch-phonologischen Vielfalt weniger geeignet scheinen, Kommunikation zu ermöglichen, als sie zu erschweren. Die alemannischen und bairischen Lautgebilde schotten in manchen Gebirgstälern bekanntlich von Dorf zu Dorf die Bewohner voneinander ab.

Nicht anders in der Hauptstadt, das Wienerische (linguistisch eine Varietät des Ostmittelbairischen) differenziert sich bezirksweise, wobei zudem Bildungsunterschiede hörbar werden, die sich als Klassenschranken aufstellen. Zwischen Favoriten und Hietzing liegen Welten, ebenso zwischen Simmering und Döbling. Im Sprechakt werden Grenzen gezogen, auch wenn sozialdemokratische Stadtpolitik dies seit Jahrzehnten ganz gut zu überspielen weiß.

Schönbrunner Deutsch

Überdies schließen sich soziale Gruppierungen durch Sprachpraktiken nach außen ab (Schönbrunner Deutsch, Rotwelsch). Dass Soziolekte als linguistisches Instrument zum Aufbau gesellschaftlicher Barrieren wirken, zeigt sich am deutlichsten in den Geheimsprachen, euphemistisch Fachsprachen genannt (Juristen, Mediziner, Jäger, Gauner). Sie bewahren Wissen exklusiv für die Eingeweihten und garantieren deren Status und Einkommen.

Vereine und Clubs, Cliquen und Szenen, Alumni-Gemeinschaften und Männerbünde verstärken gesellschaftliche Differenzierungsprozesse auch durch Sprachpraxen. Durch Tonfall und Modulation, durch richtig platzierte Ausdrücke, auf die nur Initiierte die passende Antwort wissen, werden soziale Demarkationslinien geschaffen. Vorgeblich vernetzen solche Zusammenschlüsse Gleichgesinnte, scheinbar absichtslos produzieren sie Ungleichheiten.

"Vollholler", Wort des Jahres 2017.

Sprache signalisiert Zugehörigkeit

Manchen gelingt es, sich hinaufzuarbeiten, andere hangeln sich durch Beherrschung von Kulturtechniken (Golf, Netzwerken) nach oben. Richtiges Reden signalisiert Teilhabe, doch ein falsches Wort zur falschen Zeit verrät rasch den Eindringling, und schon ist er wieder draußen. Mancherorts sind Dialekte vom Untergang bedroht oder werden gerade noch vor dem Verschwinden in Vereinen wiederbelebt. Andernorts sind Sprachinseln von der Allgemeinheit vergessen, aber blühen im Verborgenen in den Familien, so wie jene der Jenischen, vor Jahrhunderten verarmte Gruppen in Mittel- und Westeuropa, die eine teilmigrantische Lebensweise pflegten, ethnisiert wurden bzw. sich selbst ethnisierten.

In einigen Dörfern (die bekanntesten sind Loosdorf und Amaliendorf) pflegt die Jugend wieder das Idiom, das linguistisch meist als Varietät des Rotwelsch eingeordnet wird. Ein bisschen dem Vergessen entrissen wurden die Jenischen durch Thomas Sautner, er machte sie zum Thema seines Romans Fuchserde (2006). In der Schweiz sind sie seit 2016 offiziell eine nationale Minderheit, in Österreich kämpfen Aktivisten um einen solchen Status, und das türkis-grüne Regierungsprogramm verspricht wenigstens die "Prüfung der Anerkennung der jenischen Volksgruppe".

Sprachpuristen

Fälschlich für nahezu ausgestorben gehalten wurden allerdings die merkwürdigen Wortkreationen der Burschenschafter. Jahrzehntelang verpönt und von der hegemonialen Linken geächtet, erfreute sich dieser Jargon unter Türkis-Blau einer Renaissance, samt dem dazugehörigen androzentristischen Elitedenken. Zur Zeit eines Herrn Kurz mit seinem ersten Kabinett wurden das altertümliche Männlichkeitsgehabe, die Trink- und Kampfrituale, die zeremoniellen Auftritte in Wichs wieder gesellschaftsfähig, samt der braunen Soße, mit der der Budenzauber überschüttet ist.

Hingegen formieren sich Jugendsprachen szeneübergreifend, sie verwischen soziale, ökonomische und teilweise geografische Grenzen. Ihre undurchlässige Zonenschranke bildet das Alter, geschützt wird sie durch ständigen Wortschatzwechsel, sodass die Gymnasiasten die verbalen Kreationen schon wieder vergessen haben, bis sie den Senioren ins Bewusstsein dringen – "so vong Sprache her", wer erinnert sich noch daran? So ist es auch mit dem variablen Neusprech, den digitale Netzwerke, Fernsehen, Werbung, SMS und Konsorten wie am Fließband ausstoßen und ebenso schnell wieder ausmustern.

Sprachverfall

Überhaupt finden Sprachpuristen viel Gelegenheit, den Sprachverfall zu beklagen, besonders wenn sie einem altertümlichen Bildungskanon huldigen. Eine solche bietet auch jenes Deutsch, das von Migranten, Geflüchteten und deren Nachkommen geschaffen wird (unpräzise auch "Ethnolekte" genannt). Es variiert je nach Herkunft der Sprecher, verändert sich ständig, gestaltet sich regional unterschiedlich, besticht durch grammatische Kreativität und fantasievolle Wortschöpfungen. Auf Artikel wird gern verzichtet, Vorwörter und Fürwörter werden für unnötig gehalten, und dennoch entfalten diese Idiome in ihrer Vereinfachung oft eine verblüffende Sprachästhetik. Längst finden Multi Kulti Deutsch (Uwe Hinrichs 2013) und Kanak Sprak (Feridun Zaimoglu 1995) das Interesse der Soziolinguistik. Blume ist Kind von Wiese (Helga Glantschnig 1993) – daran konnte sich ein Ernst Jandl erfreuen.

Einiges davon wird, so schnell, wie es in die Köpfe dringt, diese wieder verlassen, anderes bleibt. Auch wenn verkürzte Ausdrucksweisen wie "Gemma Party" oder "ich muss Schule" manchem selbsternannten Sprachpfleger Ohrenschmerzen bereiten, gedeihen sie prächtig, ihren Gegnern zum Trotz. Denn die Ablehnung solcher Formulierungen als hohles Geplapper, als primitiv oder vulgär will ihre manchmal erstaunliche poetische Kraft nicht erkennen und ist zudem oft nur die Ablehnung von Immigration. Und wer glaubt, dass die Jugendlichen bloß ihren Slang beherrschen, irrt, viele wechseln umstandslos zum Regionaldialekt oder zum Standarddeutsch, wenn sie Lust haben, wenn es die Situation erfordert oder wenn gerade niemand da ist, der sich über ihren Sprachmodus ärgern könnte.

Auf der einen Seite wird von Traditionalisten die Bereicherung, die Zuwanderern und ihren Nachkommen zu verdanken ist, nicht gewürdigt oder abgestritten. Andererseits wird gerne und lustvoll die Verknappung der "Hochsprache" (die ja auch nur eine dialektale Varietät ist) durch allerlei Medien, digitale Kommunikation und die inhaltsleeren Worthülsen von Politikern beklagt. Der Philosoph Guillaume Paoli verweist in Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur (2017) auf eine Sprechkultur, die eher in Spelunken zu Hause sei als in literarischen Salons. Mit den Eckbeiseln verschwindet auch der Jargon, der in ihnen gepflegt wird, und in den Lounges und Wine-Bars, die sie ersetzen, zelebrieren die globalisierten Milieus ihre Coolness mit Anglizismen.

Stuss und Zoff

Jedenfalls herrscht in Vokabular und Gesellschaft ein ständiges Kommen und Gehen von Wörtern und Wendungen, von Stilmitteln und Metaphern. Das war immer so, bloß das Tempo, in dem sie einander ablösen, nimmt zu. Das Beisel und das Schlamassel wanderten aus dem Jiddischen zu, ebenso Stuss und Zoff, sie nahmen den Umweg über das Rotwelsch, das seinerseits regional, sozial und historisch variiert. Gallizismen, die in der Monarchie in die Hofsprache Einzug hielten und darüber hinaus durch näselnde Lautbildung die feinen Leute über die normalen Leute erhoben, kamen in der Vorkriegszeit im Gemeindebau an und waren dort noch in den 1970er-Jahren tonangebend. Inzwischen sind sie im Verschwinden (Pelerine, Plafond) oder so selbstverständlich, dass niemand mehr an ihre Herkunft aus dem Französischen denkt (Adresse, Akkord, Armee).

Als Tachanierer oder Tachenierer marschierte während des Ersten Weltkriegs ein Nichtstuer aus der Gaunersprache in die Soldatensprache – ist diese Geschichte auch vielleicht historisch nicht wahr, so ist sie etymologisch doch gut erfunden, und jedenfalls wird sie erzählt in Franz Werfels Barbara oder die Frömmigkeit (1929). Mittlerweile fristet dieser Faulenzer als Tachinierer in der Umgangssprache ein eher kümmerliches Dasein, sabotiert er doch neoliberale Wirtschaftsfantasien und das Regierungsprogramm. Immerhin konnte er zeitweilig Corona-indiziert ein politisch durchaus gewolltes und gefördertes Comeback erleben.

Ungleichbehandlung

Trotz oder gerade wegen der Vielzahl an Importen herrscht eine diskriminierende Ungleichbehandlung von Sprachen, Dialekten und Akzenten. Während die Helvetismen, die aus dem Westen vorrücken, in Vorarlberg als alte Bekannte auftreten und keine weitere Beachtung erfahren, stoßen Germanismen, die mit Fachkräften und Studierwilligen oder über digitale Kanäle aus den Ebenen des Nordens einreisen, bei der alpinen Bevölkerung auf Spott und Hohn und Widerwillen. Erstsprache Türkisch? Mhm. Erstsprache Französisch, Englisch? Toll. Neue Sachverhalte mit alten Worten aus der deutschen Sprache benennen? Niemand käme auf eine solch absurde Idee (Social Distancing, Contact-Tracing, Tracking, Lockdown). Wer brillieren will, wirft ab und zu ein paar englische Brocken in die Konversation oder ein paar Kofferwörter (Brexit, Brunch, Denglisch).

Literarische Größen wie James Joyce (Finnegans Wake, 1923–1939), und Elfriede Jelinek haben es vorgemacht, das lustvolle Jonglieren mit Buchstaben und Silben, das Perfektionieren experimenteller Wortspiele und Satzmelodien – die Spracherfinder lieben Kofferwörter. Durch Kontamination entstanden, scheinen sie ein Naheverhältnis zur Epidemiologie zu unterhalten. Sie verbreiten sich wie Viren, nisten sich im Wortschatz ein, befallen Lexika und beflügeln Kabarettisten. Und der Duden humpelt hinterher.

Wolf im Schafspelz

Und dann sind da noch die Scheinentlehnungen, Wörter, die man nach Phonetik und Morphologie einer bestimmten Sprache zuordnen möchte wie etwa das Handy, das Homeoffice und das No-Go. Doch jene kosmopolitische Weltläufigkeit, die sie betonen wollen, strafen sie Lügen, denn sie existieren dort gar nicht, wo sie herzukommen vorgeben, oder nur in anderer Bedeutung. Beim ersten Hören manchmal zum Lachen, manchmal zum Weinen, gewöhnt man sich schließlich an die Scheinanglizismen, ebenso wie man sich ihrerzeit an die Scheingallizismen gewöhnt hat. Letztere sind damals auch nicht aus dem Französischen zugewandert wie etwa die Blamage, der Friseur und das Parterre, dort heißen sie nämlich "la honte", "le coiffeur" und "le rez-de-chaussée".

Überhaupt das Handy: Was eh schon alle wissen, es ist ein "falscher Freund" – und zwar auch interlinguistisch betrachtet (zwei gleiche oder ähnliche Wörter aus verschiedenen Sprachen sagen Verschiedenes aus). Zwar existiert im Englischen ein gleichlautendes Adjektiv "handy", jedoch im Sinne von "praktisch" oder "nützlich". Ob ein Handy nun praktisch ist oder doch eher ein hinterlistiger Kumpel, der fortwährend neue Arbeit, Ärgernisse und Abhängigkeiten produziert, interessiert hier nicht. Mögen sich Philosophen diesem grundlegenden kulturtheoretischen Dilemma widmen – die Debatte wird gewiss kontrovers verlaufen.

Herzensösterreicher

Nicht zu vergessen ist die Diaspora mit zum Teil großen Sprechergruppen, Südtirol, die Gottschee (heute Kočevska, Slowenien), die Landler in Siebenbürgen, Rumänien, Hutterer in Kanada und den USA, die Tiroler-Dörfer in Peru, die Burgenländer in Chicago und andere. Dazu kommen dann noch die bekannten Herzensösterreicher wie Arnold Schwarzenegger und Frank Stronach mit ihrem herzergreifenden Akzent und die Trapp-Familie, für die man sich im Inland fast nicht geniert, weil man sie im ganzen Ausland liebt. Dass der dazugehörige Film (The Sound of Music, 1965) zu den erfolgreichsten aller Zeiten zählen soll, wollten die Cineasten westlich und östlich von Salzburg sowieso nie so recht glauben.

Keinesfalls herrscht also – wie manche es gerne hätten – ein einheitliches Deutschtum auf österreichischem Boden und wenn auch keine babylonische Sprachverwirrung, so doch ein Kaleidoskop mit bunten Einsprengseln, Geschenken aus aller Welt, die den sprachlichen Reichtum des Landes erst geschaffen haben. Aber das wird gerne unter die Stammtische gekehrt, an denen man einander fast ohne Worte versteht, weil man schlitzohrig ohnedies das Gleiche denkt. (Ingrid Thurner, 26.10.2022)