Kim de l’Horizon, hier auf der Frankfurter Buchmesse, ficht wider die Ignoranz derer, die ihn zu einem "Niemenschen" machen wollen.

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Am besten aufgehoben wäre die genderfluide Persönlichkeit Kim de l’Horizon vielleicht in den Metamorphosen des Ovid: Dort wäre ihr Platz irgendwo zwischen Daphne und Danae. Um den Nachstellungen durch Apoll zu entgehen, verwandelt Daphne sich in einen Lorbeerbaum. Seinen eigenen Verwandlungsprozess hat Kim, das Arbeiterkind aus dem Berner Land, gerade erst begonnen. Sein Debütroman Blutbuch wurde als erstes Werk einer nonbinären Person soeben mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Aus Anlass der Dankesrede griff Kim kurzerhand zum Rasierer. Vor aller Augen fiel das Haupthaar, ein symbolisches Opfer zugunsten der protestierenden iranischen Frauen. Kims Metamorphose drängt – kaum anders als diejenige Daphnes – mit Macht ins Gehölz. Das Blutbuch (Dumont) kreist in fiebrigen Prosaspiralen um den weitaus wichtigsten Baum in Großmutters Garten, eine Blutbuche. Ihrem Gewisper versucht Kim sich anzugleichen.

Auch das ist der womöglich wichtigste deutschsprachige Roman dieser Tage: eine berührende Heimaterzählung. Als solche steckt er tief fest im Erdreich der Mütter und Großmütter ("Großmeer"). Erfreut die Leserin mit Wortschöpfungen aus helvetischem Anbau, mit "Trucklis" (Schächtelchen), mit "Fotzelschnitten" (altes Brot, in Ei getunkt und in der Pfanne angebraten), mit "Meertrübeli" (Johannisbeeren).

Ungesichertes Terrain

Als queere Person beginnt Kim die Suche nach den eigenen Spuren auf ungesichertem Terrain. Die Herkunft beruht auf der Weitergabe weiblicher Eigenschaften. Sie fußt auf den Zärtlichkeiten, die Kim zuerst durch "Großmeers" gewaltige Hände zuteilwerden: grobe Pranken einer ins Riesenhafte gesteigerten Instanz. Oma, die ultimative Respektsperson.

Kims Vergegenwärtigung gilt aber der Einbuße der Großmutterkraft. Irgendwann sitzt "Großmeer" dement im Heim. Die Enkelperson hat aus Anlass pflichtschuldiger Besuche erfüllenden Sex mit dem Pfleger. Kims Herkunft verblasst, bildet die Kulisse für permanente Mängel und Krisen. Fühlbar bleibt das Fehlen mütterlicher Zuwendung. Väter, Groß- und Urgroßväter sind die dröhnend Abwesenden: in einer Familienaufstellung voller Lücken. Kim aber stößt sich ab. Das Motto: "Mein Begehren geht mich spazieren." Blutbuch erklärt, wie jemand wird, was er/sie ist: indem so jemand sich zum Beispiel als "jemensch" bezeichnet.

Nicht die interpunktionslosen Sexorgien mit Männern stehen im Mittelpunkt des Buches. Kim schreibt an gegen die Übermacht der normierenden Pronomen. Der Roman wimmelt von Sternchen. Es wird in ihm gegendert, was das grammatikalische Zeug hält. Kim sucht den "zungengroßen Unterschlupf", den passenden Ort für ein unstetes Queer- und Anders-Sein.

Unmögliche Person?

Das geforderte Auffinden und Einnehmen einer eigentlich "unmöglichen" Position gleicht der Quadratur des Kreises. Was die Sprache aufgrund ihrer Autorität verallgemeinert, muss Kim mühsam aus ihr herausbrechen – um es für ein möglichst lustvolles Anders-Sein zu gebrauchen.

Irgendwann ist Daphne im Mythos ein vollständiger Baum, gegenüber Übergriffen gleichgültig. Kim verkörpert dagegen die Avantgarde in Permanenz: Kaum einmal scheint die nichtbinäre Person an einem sicheren Ort verweilen zu dürfen. Auf dem Buchdeckel beschreibt Kim sich als Wesen aus der Zukunft: "geboren 2666 auf Gethen".

Andere Erfahrungen, die Kim (30) erst unlängst in der NZZ zu Protokoll gab, sind deutlich gegenwärtiger. In Berlin erntet Kim auf dem U-Bahn-Perron Faustschläge. Der Täter murmelt irgendetwas von "Schwuchteln", die er ob ihres Make-ups nicht "schlucken" könne. Ein scheidender Schweizer Bundesrat gibt an, er begrüße jede Nachfolgerin, jeden Nachfolger im Amt. Nur ein "Es" möge es bitte nicht sein! Kims Entsetzen hallt von der Zeitungsseite wider. Im Blutbuch entwirft Kim die Grundzüge einer Poetologie, die eine nichtbinäre Zukunft verheißt. Wir tragen die "Wasserhaftigkeit" unserer Existenz mit uns, leeren sie in kommende Generationen um.

Das ist vielleicht gar nicht bloß "hydrofeministisch" gemeint, sondern fluide gedacht. In der Zwischenzeit trägt Kim Kleider und Nagellack. Vielleicht findet die unbestimmbare Flucht-Masse des nonbinären Selbst einen Platz auf der Welt, der nicht von Angst besetzt ist. Damit sie nicht hineinmuss in ein Schweizer "Truckli". (Ronald Pohl, 22.10.2022)