"Eros + Massacre" (1969) gilt als anarchisches Hauptwerk der Neuen Japanischen Welle.

Foto: Viennale

Auf einer Liste der undurchdringlichsten Filme aller Zeiten dürfte Heroic Purgatory (1970) von Yoshishige (Kiju) Yoshida ziemlich weit oben stehen. Ein Schwarz-Weiß-Film, der damit beginnt, dass sich eine junge Frau durch einen Sprung in einen betonierten Schacht das Leben nimmt. Eine andere Frau namens Nanako sieht sie unten in ihrem Blut liegen, wenig später stellt sich aber heraus, dass der Selbstmordversuch (wenn es einer war) nicht zum Ziel geführt hat. Denn Ayu Keisaka liegt nun auf einem Krankenwagerl und redet schon wieder recht klar von ihrer Verlorenheit. Nanako nimmt sie mit nach Hause, stellt sie ihrem Mann Shoda vor, erwägt sogar so etwas wie eine vorübergehende Adoption, aber da läutet auch schon jemand an der Tür. Es ist Ayus Vater, der sie mitnehmen möchte, dabei aber auf Widerstand stößt.

Das Geschehen ist unzureichend beschrieben, solange man nicht deutlich macht, dass jedes einzelne Bild in diesen ersten Filmminuten auf die denkbar ausgeklügeltste Weise kadriert und komponiert ist. Yoshida zeigt eine Landschaft, die auf die Zukunft verweist. Die Gebäude haben nicht nur eine interessante Architektur, er holt auch noch das Maximum an schrägen Perspektiven und exzentrischen Verrückungen heraus. Von Shoda erfährt man schließlich, dass er als Ingenieur mit Lasertechnologie befasst ist. Zugleich aber gehört er anscheinend einer radikalen Untergrundorganisation an, die sich schon in den 1950er-Jahren aus den Protesten gegen die politische Orientierung Japans an den USA formiert hat.

Japans Kino der 1960er

Langjährige Viennale-Besucher könnten sich an die Retrospektive im Jahr 2003 erinnern. Damals standen Filme der Art Theatre Guild (ATG) auf dem Programm. Unter diesem Namen entstanden im Japan der 1960er zahlreiche unabhängige Filme in einer Kinolandschaft, die bis dahin stark von mächtigen Studios geprägt war. Nagisa Oshima, Shohei Imamura oder Toshio Matsumoto brachten ihre teilweise höchst experimentellen Arbeiten über die ATG in die Kinos.

Auch Kiju Yoshida war damals mit einem zentralen Werk vertreten: Eros + Massacre (1969), der Vorgänger von Heroic Purgatory, erzählte in kaum weniger verrätselter Form (und nach verschiedenen Montageeingriffen heute in unterschiedlichen Versionen) von Traditionen des Anarchismus in Japan.

Bei der diesjährigen Viennale-Retrospektive, die Kiju Yoshida monografisch, wenn auch nicht auf Vollständigkeit zielend, präsentiert, stehen die beiden genannten Filme gemeinsam mit Coup d’etat (1973) als Trilogie im Mittelpunkt. Erkennbar wird darin eine Geschichte des japanischen Linksradikalismus und Antiimperialismus, die Kiju Yoshida zugleich als Spurensuche betrieb, die teilweise bis ins 19. Jahrhundert in eine Art fernöstlichen Frühsozialismus führte.

Neben den politischen Aspekten seines Werks ist die Prägung durch die europäischen Hochavantgarden deutlich. Heroic Purgatory ist undenkbar ohne den Nouveau Roman, die Zeitsprünge sind mindestens so abgründig wie bei Resnais in Letztes Jahr in Marienbad.

Erotik in Schwarz-Weiß

Yoshida arbeitet aber auch mit Vorlagen aus der eigenen Kultur. 1966 verfilmte er mit Woman of the Lake einen Roman von Yasunari Kawabata, der 1968 den Literaturnobelpreis erhielt. Auch hier bervorzugt er Schwarz-Weiß für eine Geschichte von erotischer Abhängigkeit und den Versuchen einer Frau, sich aus unterschiedlichen Beziehungen zu befreien. Als Nacktaufnahmen in die falschen (oder, wie sich herausstellt, sogar irgendwie richtigen) Hände geraten, muss Miyako ihren Erpresser in dem Ort Katamayazu treffen.

Woman of the Lake zeigt, wie verschieden Sexualität handelbar wird – ein Film mit leicht bekleideten Frauen wird gedreht, eine Darstellerin lässt sich in einem Fotostudio fotografieren. In einer der schönsten Szenen in Yoshidas Werk sitzt Miyako in einem Bus, hinter ihr der leicht schäbige Verehrer, der sie mit den Fotos in Verlegenheit zu bringen versuchte. Er lädt sie ein, die Sonnenbrille abzunehmen – hier kennt sie ohnehin niemand. Diese Entblößung ist beinahe programmatisch, und zugleich zu diskret, um einer zunehmend warenförmigen Erotik etwas entgegenzusetzen.

Die Retrospektive "Yoshida Kiju. Eros, Anarchie, Anti-Cinema" überbrückt auch die langen Pausen im Werk des 1933 geborenen Regisseurs und zeigt den späten Women in the Mirror (2002, in Farbe!), in dem Motive aus dem gesamten Werk (von Hiroshima bis zur verschwundenen Tochter) zusammengeführt werden zu einem artifiziellen Generationendrama, das aus extremen politischen wie ästhetischen Ambitionen nachvollziehbare Schlüsse zu ziehen versucht. (Bert Rebhandl, 22.10.2022)