Tirade gegen "Künstler, die den Schwanz einziehen": Michael Köhlmeier wurde bei der Viennale mit einer "Grußbotschaft" zugeschaltet.

Foto: H. Corn

Der umstrittene Film Sparta feierte am Freitagabend seine Österreich-Premiere auf der Viennale im ausverkauften Wiener Gartenbaukino. Das Interesse des Publikums war, auch am zweiten Spieltermin tags darauf, groß. Beide Male wurde der Film von Festivalleiterin Eva Sangiorgi eingeleitet, die die Wichtigkeit betonte, Sparta zu zeigen, und dessen "sensiblen Blick" auf das Thema der Pädophilie betonte. Auch der Regisseur Ulrich Seidl war anwesend und erntete wohlwollenden Applaus.

Am Premierenabend sollte es dann aber doch noch zu einem Aufreger kommen – und wieder ging es dabei nicht um den Film. Anstelle eines geplanten Gesprächs zwischen dem Regisseur Ulrich Seidl und dem Schriftsteller Michael Köhlmeier sendete Letzterer nämlich eine siebenminütige Videobotschaft aus Hohenems, die mit ihren Aussagen und Vergleichen polarisierte.

"Kunst der Abtrünnigen und Ketzer"

Köhlmeier verlas in dem für ihn üblichen Sprachduktus eine flammende Rede für eine "wahre Kunst", die "nicht von zuverlässigen Vollzugsbeamten gemacht wird, sondern von Wahnwitzigen, Abtrünnigen, Ketzern, Träumern, Aufständischen, Skeptikern." Er zitierte hier den russischen Dichter Jewgeni Samjatin, der in den 1920er-Jahren aufgrund der Stalinisierung sowjetischer Kultur ins Pariser Exil ging und dort verstarb.

Daraufhin kam Köhlmeier auf Ulrich Seidl, dessen Kunst und die von ihm konstatierte Doppelmoral der Medien zu sprechen. Reporter empörten sich nicht etwa darüber, dass "tausende minderjährige Flüchtlinge" in Europa verschwinden würden, sondern spielten, "wenn ein Kind bei Dreharbeiten zu einem Film weint, den heiligen Don Bosco". In einer Filmkultur, in der "jedem Kind" mittlerweile zugemutet werde, "mit Massenmördern einen Film- oder Kinoabend zu verbringen", könne man das Interesse an der Wahrung von Kinderrechten bei Filmdrehs lediglich als Vorwand deuten, um mit Künstlern wie Ulrich Seidl abzurechnen. Eine Abrechnung, so Köhlmeier, die "schon lange fällig war."

Das Lauern der Jakobiner

Die Vorwürfe an Seidl gründen laut Köhlmeier nicht etwa in den konkreten Anschuldigungen von Teilen der Darsteller und Crew bezüglich Seidls Methoden in der Arbeit mit Kindern am Filmset von Sparta (was Köhlmeier nicht erwähnt), sondern in Seidls Kunstverständnis, das Köhlmeier anhand von Seidls Film Safari veranschaulichte: "Er ist ein Künstler, der spricht uns nicht los. Der verweigert uns den Außenposten, der zerrt uns hinein, der belehrt uns nicht, der gönnt uns nicht die heilige Katharsis." Die "unverzeihliche Sünde des Ulrich Seidl" sei: "Er macht uns zu Tätern. Und das tut weh. Und deshalb lauern die Tugendwächter, die neuen Jakobiner, und sie lauern schon seit langem."

In seinem Rundumschlag empörte sich Köhlmeier außerdem über "mäkelige Kritiker" und über "jene Künstler, die den Schwanz einziehen, die den Shitstorm fürchten", denn so leisteten sie einem Kunstverständnis "zuverlässiger Vollzugsbeamter" Vorschub. Ganz zum Schluss erst kam der Schriftsteller auf Sparta zu sprechen, einen Film, der ihm zufolge eine "vorbehaltlose Zärtlichkeit" zeigt, "wie sie im Kino selten ist".

Die Viennale-Leitung stellte auf Nachfrage* klar, dass es sich bei dem Statement um Köhlmeiers "persönliche Meinung" handelt, die die "Viennale natürlich zu respektieren hat". (Valerie Dirk, 23.10.2022)