Die Northern Limit Line (NLL) gilt als einer der vielen möglichen Brennpunkte zwischen Nord- und Südkorea.

Foto: Reuters / Kim Hong-ji

Seoul – Im Morgengrauen sind am Meer zwischen Süd- und Nordkorea Warnschüsse gefallen, wie beide Länder wenig später berichteten. Nach Angaben der südkoreanischen Agentur Yonhap feuerte die Armee des Landes kurz nach drei Uhr Früh in Richtung eines nordkoreanischen Boots, das jene Linie überquert hatte, die als de-facto-Seegrenze zwischen den beiden Ländern gilt. Rund 90 Minuten später habe Nordkorea zehn Schüsse aus Raketenwerfern in Richtung Süden abgefeuert.

Zunächst war unklar, ob diese die Demarkationslinie überquert haben oder in einer Pufferzone gelandet sind. Später teilte Südkorea mit, dass keines der Geschosse die Trennline überquert habe. Südkorea sprach dennoch von einer Provokation und von einem Verstoß gegen ein Abkommen aus dem Jahr 2018. Seoul erhöhte in dem Gebiet die militärische Bereitschaft. Später kündigte die Regierung zudem ein großes Marinemanöver in der Region an, an dem rund 20 Schiffe teilnehmen sollen. Dieses ist Teil der laufenden Manöver mit den USA und diene dazu, "die Vorbereitungen für Provokationen des Feindes" auszubauen.

Die staatlichen nordkoreanischen Agentur KCNA stellt den Vorfall anders dar: Zwei südkoreanische Schiffe hätten die Seegrenze überquert, es und sei danach vom Norden durch die Warnschüsse "brüsk zurückgewiesen" worden. Nordkorea sprach auch von weiteren "Provokationen" des Südens, etwa Lautsprecherbeschallung an der gemeinsamen Landgrenze. Beide Länder meldeten nach dem Vorfall zunächst keine weiteren Geschehnisse in dem Gebiet.

Bekannte Konfliktzone

Die De-Facto-Seegrenze zwischen den beiden Staaten, die sogenannten Northern-Limit-Line (NLL), war in der Vergangenheit immer wieder Schauplatz provokativer Vorfälle. Sie war 1953 von der Uno gezogen worden, ist aber nicht Teil des Waffenstillstandsabkommens zum Koreakrieg. Der Norden hat sie bis heute nicht anerkannt und zieht eine andere Linie. Auch weil das strittige Meeresgebiet als ertragreiche Fischereizone gilt, überqueren nordkoreanische Boote immer wieder die Linie. Pjöngjang hat mehrfach gewarnt, eine Durchsetzung der NLL würde mit Waffengewalt beantwortet werden.

Der Austausch von Montagfrüh ist im Zusammenhang mit den jüngsten Eskalationsschritten im Koreakonflikt zu sehen. In den vergangenen Wochen hatte der Norden zahlreiche Raketentests durchgeführt, nach Angaben Seouls in einer bisher nicht gesehenen Frequenz. Mögliche weitere Eskalationsschritte werden nach dem Ende des chinesischen KP-Parteitags vom Sonntag befürchtet.

Zudem wird für wahrscheinlich erachtet, dass Pjöngjang schon bald erstmals seit 2017 wieder eine Atombombe testen könnte. Diktator Kim Jong-un hatte diese nach der Annäherung an US-Präsident 2018 stoppen lassen, er hat seither aber bekundet, dass er sich an diese Zusicherung nicht mehr gebunden fühlt. Zudem hat Nordkorea jüngst seine Gesetzgebung geändert, sodass in bestimmten Fällen – etwa der Ausschaltung der nordkoreanischen Führung – nukleare Erstschläge möglich würden. Nordkorea verweist als Begründung für die Eskalation auf gemeinsame Militärübungen Südkoreas und der USA, die man als Bedrohung empfinde. Seoul und Washington weisen dies zurück. (mesc, 24.10.2022)