Drei Tage lang hielt Boris Johnson die Briten in Atem. Würde der erst im Juli von der eigenen Fraktion aus dem Amt gejagte Ex-Premier nach dem Rücktritt von Liz Truss wirklich nochmal antreten wollen? An den Finanzmärkten gingen die Zinsen für britische Staatsschulden in die Höhe, das Pfund verlor an Wert – Ausdruck der Unsicherheit, die sich neuerdings mit der einst soliden Wirtschafts- und Finanzpolitik der regierenden Konservativen verbindet. Was der zerzauste Blondschopf selbst von Ökonomie hält, ist ja bekannt: "Fuck Business".

Definitiv die Vergangenheit und nun auch definitiv die Zukunft: Boris Johnson, Rishi Sunak.
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Drei Tage lang verbrachten seine Jünger damit, ihr Idol in den Himmel zu loben. Dabei war von Anfang an Skepsis angesagt: Das wirtschaftlich schwer gebeutelte Land kann sich nach dem Kamikaze-Haushalt der Vorgängerin die Rückkehr eines bereits Gescheiterten wirklich nicht leisten. Das scheint auch den meisten Abgeordneten gedämmert zu haben. Sollte Johnson in der 457-köpfigen Fraktion wirklich 102 Anhänger gehabt haben, wie von ihm behauptet? Öffentlich zu ihm bekennen mochten sich jedenfalls nicht einmal 60 Männer und Frauen.

"Johnson-Umnachtungssyndrom"

Einer davon behauptete nach Johnsons Rückzug am Sonntagabend, er sei von dieser Entscheidung überrascht. Wenn das stimmt, ist James Duddridge vom "Johnson-Umnachtungssyndrom" befallen, das Paul Goodman von der einflussreichen Website "Conservative Home" bei Anhängern wie Gegnern des zerzausten Blondschopfs diagnostiziert: Die einen sehen immer nur Gutes, die anderen ausschließlich Schlechtes. Einen Mittelweg gibt es nicht.

Die politische Karriere des 58-Jährigen ist mit seinem Zurückschrecken vor der fast sicheren Niederlage noch lange nicht beendet. In der jetzigen Situation aber brauchen die Konservativen einen ökonomisch versierten, von Skandalen unberührten, mit ruhiger Hand das Staatsschiff steuernden Kapitän. Viel spricht dafür, dass Rishi Sunak diese Qualitäten hat.

Ins höchste Regierungsamt zieht damit zum ersten Mal ein Nichtweißer ein. Mag Sunak auch aus der wohlhabenden Bürgerschicht stammen und eine klassische Tory-Karriere durchlaufen haben – sein Gesicht in der Downing Street steht eben doch für eine offene, trotz aller Brexit-Friktionen tolerante Gesellschaft. Viele europäische Verbündete hinken, was die Integration ihrer Minderheiten angeht, weit hinter Großbritannien her. In der britischen Politik sind es wieder die Konservativen, die personell neue Wege gehen. Drei Premierministerinnen hat das Land bisher gehabt, alle waren Torys. Nun also ein sichtbarer Vertreter einer ethnischen Minderheit. Dagegen sieht die oppositionelle Labour-Party alt aus.

Viel Zeit bleibt nicht

Sunak dürfte mehr Tage, Wochen, womöglich sogar Monate im Amt verbringen als seine Vorgängerin, die am kürzesten amtierende Premierministerin der vergangenen 300 Jahre. Viel Zeit bleibt ihm allerdings nicht: Die Legislaturperiode dauert höchstens noch zwei Jahre. Und wenig spricht dafür, dass die total zerstrittenen Tories so lange durchhalten. Schon jetzt wären vorgezogene Neuwahlen die demokratischste Lösung – zu viel hat sich seit der Brexit-Wahl im Dezember 2019 verändert.

Der neue Premierminister wird eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede à la Churchill halten müssen. Den Briten steht ein schmerzliches Erwachen bevor. Mit einem Leistungsbilanzdefizit von acht Prozent und einer Staatsschuld, die höher liegt als das jährliche Bruttoinlandsprodukt, lebt das Land weit über seine Verhältnisse. Und der Brexit macht die Insel stetig ärmer. Die Regierenden werden Augenmaß, Pragmatismus und Entschlossenheit brauchen. Man kann den Briten nur wünschen, dass nach dem Johnson-Chaos und Truss-Desaster im Tollhaus von Westminster diese Tugenden wieder gefragt sind. (Sebastian Borger, 24.10.2022)