Jarvis Cocker hat seinen Dachboden ausgemistet. Das liest sich sehr unterhaltsam.

Foto: Daniel Cohen/Lumen Photo

Irgendwann Anfang der 1980er Jahre wird der junge Jarvis Cocker einige Meter über Straßenniveau an einem Fenstersims hängen und die Kräfte seiner Hände schwinden sehen. Der spätere Sänger der in den 1990er Jahren weltberühmten Britpop-Band Pulp wollte auf einer Party eine Frau mit seinen Kletterkünsten beeindrucken. Sechs Wochen später darf er nach einem „kontrollierten Sturz“ und Knochenfrakturen das Krankenhaus verlassen. Nach der wilden Zeit in einem künstlerisch wie vom Lebensstil prekär angelegten Loft in Sheffield muss er wieder ins Hotel Mama ziehen. Er muss wieder gehen lernen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist der Masterplan, mit einer Popband berühmt zu werden, die sich einmal Pulp nennen wird, abgeschlossen. Die Slapstick-Passage stellt einen Höhepunkt in Jarvis Cockers etwas anders gearteter „Autobiographie“ dar. Sie trägt den Titel Good Pop Bad Pop . Sie hantelt sich im Gegensatz zur gewöhnlichen, halb amüsanten, halb banalen Musikerautobiographien eben nicht über diversen Drogen- und Sexualpartner-Missbrauch und Small Talk mit David Bowie unter besonderer Berücksichtigung von Sir Elton John hin zu heutiger Altersweisheit und etwaigem veganen Lebensstil.

Der Einstieg zum Dachboden.

Wie so viele andere kreative Menschen auch war Jarvis Cocker, von Kind an mit leicht autistischen Zügen versehen, immer ein großer Planer in Notizheften. Zusätzliche Tendenz: Messie. Bloß nichts aus der Hand geben, was nicht mehr gebraucht wird. Allerdings sieht sich der heute überwiegend in Frankreich lebende Jarvis Cocker parallel zu Marie Kondo vor zwei, drei Jahren gezwungen, in einem seiner Wohnsitze die Dachkammer auszuräumen. Ein mühsames Unterfangen, wenn man bedenkt, dass sich Lulatsch Jarvis in dieser einige Meter langen "Stange Toblerone" nur kriechend vorwärts bewegen kann.

Statt wie die durch die Pandemie und Netflix weltberühmte Ausmisterin Marie Kondo Ordnung ins Leben zu bringen und nur Dinge zu behalten, die einen wirklich glücklich machen oder gar nützlich sind, geht der heute vor einem für 2023 geplanten Comeback von Pulp auch als Radiomoderator, Vortragsredner und Hans Dampf für Popmusik, Filmsoundtracks, Neoklassik und eigentlich eh alles tätige Mann einen anderen Weg.

PulpVEVO

Für die Praktik des "Swedish Death Cleaning", in der alte Menschen ihren weltlichen Besitz reduzieren, um mit unnötiger Hinterlassenschaft nicht den Erben zur Last zu fallen, ist er noch zu jung. Cocker kann auch nicht so wie der ehemalige Hausherr des Britischen Museums, Neil MacGregor, in seinem tollen Wälzer Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten auf eine tausend Jahre alte Steinstatue von der Osterinsel, Albrecht Dürers Rhinocerus von 1515 oder ein Frühviktorianisches Teeservice von 1840 zurückgreifen. Bei Jarvis Cocker finden sich unter dem Dach alte Kaugummis, als es diese noch in Streifenform gab, Seifenreste, klappernde Aufzieh-Plastikgebisse oder eine alte E-Gitarre.

Eine Brille. Weitere sollten folgen.

Anhand des wiedergefundenen sexistischen Dirty Joke Book erinnert sich Cocker zum Beispiel an die mühsame Entdeckung der Selbstbefriedigung. Tolle Sache, aber ein bisschen verstörend. Alte Schulhefte belegen, dass die Band Pulp vor allem auch bezüglich ihres Kleidungsstils von Humana von Cocker schon sehr früh mittels Skizzen durchgeplant war. Es werden in diesem mit zahlreichen Tatortfotos des Hobbyarchäologen und Autoren behübschten Buch auch diverse brüllbunte Polyesterhemden und Schlaghosen auftauchen.

Diese Ästhetik eines abgelegten und auf Flohmärkten für wenig Geld erhältlichen Lebens als bunt zusammengewürfelter Zitatehaufen bestimmt die Kunst Jarvis Cockers bis heute. Iggy Pop & The Stooges treffen auf William Shakespeare. Ein verstopftes Waschbecken in der Küche dient im Lied Mile End als Textthema. Die Mutter als durch ihre frühe Schwangerschaft verhinderte akademische Malerin wird ebenso beschworen wie "ranzige Schlipse", spitze Schuhe oder zerbrochene Krankenkassenbrillen.

Die erste Besetzung von Pulp, irgendwann in den 1980er-Jahren.

In einer offenbar durchdeklinierten Popwelt wird die Kunst des Zusammenfügens und der Neuordnung offensichtlich nebensächlicher Dinge, die die Welt schon vor 30 Jahren so dringend brauchte wie noch einen weiteren Pfarrgemeinde-Flohmarkt zur eigentlichen Kunst. Dankenswerterweise betrachtet Jarvis Cocker seinen Stauraum unter dem Hausdach am Ende als Chance. Die guten und wesentlichen Dinge bleiben erhalten. Den unnötigen Ballast wirft er auf den Müll. Guter Pop ist selten, schlechter Pop muss weg. Schmeckt ein alter Kaugummi aus den 1980er-Jahren eigentlich noch? (Christian Schachinger, 25.10.2022)