Werner Herzog entzieht sich seit jeher nicht bloß allen möglichen Etiketten. Er ist auch stets unterwegs gewesen.

Deutsche Kinemathek

Was wissen wir von diesem Mann mit schütterem Haar, dessen blaue Augen uns von einem Plakat herab fixieren, einen zähnefletschenden Bären hinter sich? Dass die Schauplätze seiner Filme oft abgelegene riskante Orte sind, mit Vorliebe in der Nähe von kannibalischen Dschungelbewohnern oder gleich ausbrechenden Vulkanen. Dass er in Extremsituationen bedingungslos eine "ekstatische Wahrheit" sucht. Dass er im Amazonas für seinen Film Fitzcarraldo (1982) ein 160 Tonnen schweres Schiff von indigenen Statisten mit Seilwinden über einen Berg ziehen ließ. Dass ihn eine tiefe Hassliebe mit seinem genialisch-verrückten Hauptdarsteller Klaus Kinski verband, die handgreifliche und selbst mörderische Züge annehmen konnte (posthum zelebriert in Mein liebster Feind, 1999).

Auch, dass er für den Film Herz aus Glas (1976) eigens die Technik der Hypnose erlernte und die mitwirkenden Schauspieler in Kollektivtrance versetzte. Dass er nach einer verlorenen Wette einmal in ein Kakteenfeld sprang, ein anderes Mal seine Schuhe kochte, vor Publikum aufaß und sich dabei filmen ließ. Dass er für seine Filme Kleinwüchsige, Taubstumme und zum Tode Verurteilte vor die Kamera holte. Und nicht zuletzt, dass er im eiskalten Winter von 1974 zu Fuß von München nach Paris ging, um in einem Akt magischer Beschwörung die von ihm verehrte Filmhistorikerin Lotte Eisner erfolgreich am Sterben zu hindern.

Die Liste ließe sich noch erweitern, allerdings wäre auch damit nur ein Teil des Gesamtphänomens Werner Herzog beschrieben, der mittlerweile Legende ist, woran die Bildgewalt seiner Filme nicht unwesentlich beteiligt ist. So hat man seine Arbeit vielfach durch einen dunklen Filter betrachtet, demzufolge Schrecken und Brutalität in einer Ästhetik des Erhabenen verherrlicht werden.

Westlich geprägte Verzerrung?

Diese Vorwürfe trafen vor allem seine drei großen Kolonialdramen mit Kinski in der Hauptrolle: Aguirre, der Zorn Gottes (1972), Fitzcarraldo (1982) und Cobra Verde (1986), in denen eine Reihe von Kritikern eine westlich geprägte Verzerrung der historischen Realität sehen wollte.

Alle möglichen Etiketten hat man Herzog anzuheften versucht, dennoch entzieht sich seine vielgestaltige Arbeit (über siebzig Filme, eine Handvoll Bücher, mehr als zwei Dutzend Operninszenierungen) sowie sein Auftreten als Schauspieler und Sprecher in den Filmen anderer Regisseure jeder Klassifizierung.

Die schlicht seinen Namen tragende Ausstellung, die ihm die Berliner Kinematik derzeit widmet, konfrontiert die bekannten Klischees und Kontroversen auf erhellende Weise mit einer Perspektive, die Herzogs Arbeit unter filmhistorischen und handwerklichen Aspekten betrachtet. In einer kuriosen Wunderkammer sind hier Requisiten aus seinen Filmen zusammengestellt, wobei unentscheidbar bleibt, was echt und was erfunden ist: ein unlösbares Bilderrätsel aus Fakt und Fiktion. In eine ähnliche Richtung zielt die Dokumentation Radical Dreamer von Thomas von Steinaecker (2022), in der Herzog neben einer Reihe von Mitarbeitern und Wegbegleitern gewissermaßen auf der Suche nach sich selbst ist. So bemerkt er, dass er manchmal zweifelt, ob er seine Filme wirklich gedreht hat oder ob es sich vielleicht um Träume handelt.

Tiefe Ernsthaftigkeit, kindliches Staunen

Wenn Herzog das mit seiner eigentümlichen, mit bayerischem Akzent gefärbten Stimme sagt, möchte man ihm glauben, denn er verfügt über eine entwaffnende Mischung aus tiefer Ernsthaftigkeit und kindlichem Staunen. Doppelbödige Ironie oder filmische Zitatverliebtheit, wie man sie vor allem im französischen Autorenkino findet, waren seine Sache nie.

Beim Schreiben und Filmen lehnt Herzog sowohl die kokette Selbstbespiegelung als auch die Scheinobjektivität des Dokumentarfilms ab, der den Regisseur zur "Fliege" an der Wand macht. Ein frommer Glaube, der die "Kameras in den Bankfilialen zum Idealfall des Filmschaffens" erklären müsste: "Ich will keine Fliege sein, ich will eine Hornisse sein, die zusticht."

Dementsprechend geht es in Herzogs eben erschienenem Erinnerungsbuch nicht um die Suche nach einer autobiografischen Wahrheit einer Person namens Werner Herzog, sondern darum, der Entstehung von deren Ideen und Visionen nachzuspüren. Wie schon die Wiederverwendung des Titels Jeder für sich und Gott gegen alle aus seinem Film über Kaspar Hauser (1974) nahelegt, bleibt für Herzog trotz aller Erkenntnisanstrengungen das Rätsel Mensch auch in seinem Fall vertrackt. Er wäre darum "lieber tot, als zu einem Psychoanalytiker zu gehen", denn "wenn man ein Haus bis in die letzten Winkel grell ausleuchtet, wird das Haus unbewohnbar. Ebenso ist es mit der Seele, sie bis in ihre dunkelsten Schatten ausleuchten, macht Menschen ‚unbewohnbar‘."

Ohne Skript und Plan

In seinem Film Theatre of Thought (2022) beschreitet Herzog darum einen anderen Pfad, der ihn in die Welt der modernen Hirnforschung führt. Eigenwillig, wie stets, führt ihn dieses Roadmovie, ohne vorgegebenes Skript und Plan, als eine Art von Forschungsreisendem durch die hochtechnisierte Welt der Wissenschaft. Er zeigt seine Protagonisten, führende Vertreter der modernen Neurowissenschaften, vor allem als Menschen und konfrontiert diese mit ethisch und politisch brisanten Fragen, wie nach der Kontrolle von Gedankenvorgängen durch implantierte Chips, und endet mit Gangbildern von marschierenden Soldaten.

"Meine Filme waren immer Filme zu Fuß", sagt Herzog. Dies sei nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern im Sinne eines Weltbildes, das seine gesamte Arbeit präge. "Zu Fuß" sein, das bedeutet die ungeschützte Auseinandersetzung mit einer unberechenbaren Wirklichkeit. So notiert dieser Menschen-, Natur- und Weltenbeobachter des Kinos, der es von Grund auf neu erfinden will, zum Gehen: "Immer wieder, und nochmals immer wieder, leitet sich die Bedeutung der Welt aus dem Kleinsten, sonst nie Beachteten ab, dies ist der Stoff, aus dem sich die Welt ganz neu ergibt." (Andreas Mayer, 25.10.2022)