Dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen in seiner ersten Wortmeldung seit seiner Wiederwahl vor der Erschütterung der Demokratie warnte, da sich nach den jüngsten Enthüllungen von Thomas Schmid "viele Menschen mit Schaudern von der Politik abwenden", ist ein Alarmzeichen, das die jüngsten Umfragen bestätigen.

Die 454 Seiten umfassenden Protokolle der Vernehmungen des einst ranghöchsten Beamten des Finanzministeriums bieten – auch in internationalem Maßstab – einen beispiellosen Einblick in die Abgründe eines vermuteten kriminellen Systems in der österreichischen Politik.

Die Liste der 45 Beschuldigten, gegen die die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt, liest sich wie "der Politik- und Geldadelalmanach Österreichs" ("Der Spiegel, 22. 10.). Die Liste wird von Ex-Kanzler Sebastian Kurz angeführt, der mit einem von ihm heimlich aufgenommenen Telefongespräch mit seinem einstigen Vertrauten beweisen will, dass dessen Behauptungen "glatte Lügen" sind. Alle anderen Beschuldigten bestreiten die gegen sie gerichteten Vorwürfe.

Wie wird es mit der ÖVP weitergehen?
Foto: EPA/ STEPHANIE LECOCQ

Es geht aber in erster Linie nicht einmal darum, ob und wer strafbare Handlungen begangen hat, die nur von den Gerichten festgestellt werden können. Auf dem Spiel steht die Zukunft der ÖVP und darüber hinaus die der liberalen Demokratie in unserem Land.

"Für die eigene Machtbefriedigung"

Das hat, als bisher einziger Vertreter der bürgerlichen Mitte, der frühere Spitzenmanager und Präsident der Nationalbank (2008–2018) Claus Raidl in einem aufsehenerregenden Interview festgestellt: "So etwas habe ich noch nie erlebt, dass eine Clique sich die Partei und das Land unter den Nagel reißt für die eigene Machtbefriedigung." Er richtete zugleich einen geradezu dramatischen Appell an Bundeskanzler Karl Nehammer: Er "muss die Partei Kurz-frei machen, er muss alle möglichen Personen und Umstände, die belastend sein können, beseitigen" (Kurier 23. 10.).

Diese hochangesehene und wiederholt als möglicher ÖVP-Wirtschaftsminister gehandelte Persönlichkeit hatte bereits im Sommer die ÖVP-Führung davor gewarnt, "alles zu vertuschen". Es ist allerdings zu befürchten, dass Raidl mit seinem Aufruf in der ÖVP nur wenig Widerhall finden wird.

Bundeskanzler und ÖVP-Obmann Nehammer sagte zwar, dass er die Worte des Bundespräsidenten ernst nehme, bezeichnete aber Teuerung und Inflation als "die echten Probleme der Menschen". Die Reaktionen führender ÖVP-Sprecher und der der Partei nahestehender Kommentatoren lassen eher darauf schließen, dass die Führung im Bund und auch in den Bundesländern vor den drei bevorstehenden Landtagswahlen die Krise "aussitzen" möchte.

Neben der mangelnden Qualifikation des politischen Spitzenpersonals bleibt die Unterschätzung der zentralen Bedeutung des Charakters in Führungspositionen das gravierendste Problem für die Volkspartei. Die jüngste Studie des Integral-Instituts bestätigt die wachsende Anziehungskraft der Rechtspopulisten nach den Politskandalen für die enttäuschten oder latent demokratieskeptischen Schichten der bürgerlichen Mitte. Italien bietet das aktuellste Beispiel für den selbstverschuldeten Zerfall einer großen christdemokratischen Volkspartei. (Paul Lendvai, 24.10.2022)