Und seien die Fäden des Zusammenhangs noch so fein: Anna Boghiguian beim Erschaffen ihres äußerst welthaltigen Panoptikums.

Foto: Miro Kuzmanovic

"Wachsam bleiben", sagt Anna Boghiguian, das sei angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart wichtiger denn je. Denn die Geschichte habe uns gelehrt, wie schnell aus Krisen die Geschwüre des Faschismus wuchern können. Man sieht das auch in Zeichnungen der Künstlerin, die den Aufstieg der Nationalsozialisten thematisieren, insbesondere an einer Figur hat sich Boghiguian abgearbeitet, nämlich am österreichischen KZ-Arzt Aribert Heim, einem der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher, unter den Häftlingen in Mauthausen war er als "Dr. Tod" bekannt.

Kommt man mit Boghiguian auf Heim zu sprechen, dann setzt das einen gewaltigen Erzählstrom über ihre Recherchen in Gang, er führt in die Geburtsstadt der Künstlerin: Heim floh in den 1960er-Jahren nach Kairo, wo er später zum Islam konvertierte und wo er bis 1992 unbehelligt in einem Hotel gelebt hat.

Jahre des Reisens

Kontinuitäten und Brüche, globale Verbindungslinien zwischen historischen, ökonomischen und politischen Ereignissen, das scheinbar unauslöschliche Prinzip von Unterdrückung und Aufstand sind zentrale Themen im Werk von Boghiguian, die 1946 in Kairo in eine aus Armenien stammende Familie hineingeboren wurde.

Sie beleuchtet sie aus einer persönlichen Perspektive, die die Perspektive einer Weltbürgerin ist. Boghiguian hat in Kairo Politik- und Wirtschaftswissenschaft, später in Montréal Malerei und Musik studiert. Es folgten lange Jahre des Reisens, in denen sie unzählige Skizzenhefte gefüllt hat, aus Bildern, Collagen und Texten sind Künstlerbücher und Leoporellos entstanden, die sich zu bühnenartigen Installationen auswachsen, seit man ihr die entsprechende Bühne dafür gibt.

Boghiguian war bereits in ihren Sechzigern, als sie zur Kasseler Documenta und zur Sharjah-Biennale eingeladen wurde, der Startschuss für eine rege internationale Ausstellungstätigkeit, 2018 widmete ihr das Castello di Rivoli bei Turin eine erste Retrospektive, die danach auch ins Salzburger Rupertinum gewandert ist. Auf dem geschleckten Kunstparkett ist die heute 76-jährige Künstlerin dennoch eine Ausnahmerscheinung geblieben, eine auch optisch herrlich unangepasste Eigenbrötlerin mit recht ruppigem Charme und einem eigenwilligen Blick auf den Strom der Geschichte, aus dem "wir uns nicht herauslösen können", wie sie im Gespräch sagt.

Was Boghiguian aus diesem Strom fischt, gerät somit ins Netz einer an Politik, Philosophie und Literatur geschulten Welt-Erzählerin, deren Arbeiten auf den ersten Blick auch ziemlich unschuldig und kulissenhaft daherkommen können. So wie das auf einem verspiegelten Schachbrett aufgestellte Figurentheater, das Boghiguian dieses Jahr bereits in Venedig gezeigt hat, wo das Kunsthaus Bregenz im Fahrwasser der Biennale mit einer eigenen Ausstellung sein 25-Jahr-Jubiläum feierte.

In den vergangenen Monaten hat die Künstlerin das Figurenarsenal von The Chess Game in einem eigens für sie eingerichteten Atelier in Bregenz erweitert. Es besteht in erster Linie aus karikaturhaft dargestellten Personen der österreichischen Geschichte, Aribert Heim ist ebenso darunter wie Gavrilo Princip, Sigmund Freud, Berta von Suttner, Egon Schiele, Stefan Zweig oder Marie Antoinette. Wer ist Bauer, König, Läufer? Egal. Der Künstlerin geht es vielmehr darum, zum Nachdenken über globale Zusammenhänge anzuregen – und seien die Fäden, die sie da spinnt, auch noch so fein. Marie Antoinettes Faible für Baumwollstoffe könnte man zum Beispiel bis zur Haitianischen Revolution rückverfolgen und von dort schließlich weiter bis zur Französischen Revolution, die die Königin bekanntlich den Kopf gekostet hat.

Spiralen der Gewalt

Wenn Boghiguian in der eindrücklichsten Rauminstallation der Ausstellung eine Guillotine über einer verspiegelten Drehbühne verkehrt herum von der Decke hängen lässt, während rote Lichtkegel ziellos durch die Dunkelheit schweifen, spielt sie damit auch auf die Spiralen der Gewalt an, die sich bis in die Gegenwart drehen. Period of Change nennt die Künstlerin, die nach vielen Jahren in Kanada heute wieder in Kairo lebt, ihre Bregenzer Schau, für die sie vor Ort eine Reihe von expressiven Zeichnungen geschaffen hat. Auch sie lassen sich als filmisches Panoptikum politischer Ideen und Konflikte lesen. Am Ende gehen Putin und ein russischer Zar in der baltischen See baden. (Ivona Jelčić, 27.10.2022)