Zehntausende begaben sich am Mittwoch auf den Weg in die kurdische Stadt Saghez, um Mahsa Amini zu gedenken.

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Am 40. Tag nach dem Tod eines Menschen versammeln sich Familie und Freundeskreis auf dem Friedhof: Das Grab von Mahsa Amini in der kurdischen Stadt Saghez wurde am Mittwoch jedoch zum Ziel von vielen Tausenden, die der jungen Frau gedachten, deren gewaltsames Sterben in der Haft der Sittenpolizei am 16. September eine nie da gewesene Protestwelle im Iran ausgelöst hat.

Im Vorfeld des 40. Tags soll Aminis Familie mit der Verhaftung ihres Sohns bedroht und gezwungen worden sein, auf ein Gedenken zu verzichten: Hunderttausende sind für sie eingesprungen. Bilder in sozialen Medien zeigten am Mittwoch massive Menschenströme auf dem Weg nach Saghez. Die vom Staat kontrollierten Medien nannten die Zahl 10.000 und meldeten "Zusammenstöße" auf dem Friedhof. Laut Berichten wurde von Sicherheitskräften das Feuer eröffnet. Staatliche Medien meldeten dafür einen "Angriff sunnitischer Terroristen" aus dem Ausland mit 15 Toten.

Saghez war im September, anlässlich des Begräbnisses von Mahsa Amini, der Ausgangspunkt der Demonstrationen, die kurdischen Städte sind seither ein Zentrum der Proteste. Am Mittwoch wurden alle Schulen und Universitäten geschlossen, als Grund wurde eine "Grippewelle" angegeben. Es blieb wirkungslos.

Aber auch anderswo im Land geben die Iraner und Iranerinnen nicht auf. Heißt es in Kurdistan "Jîn, Jiyan, Azadî ", so heißt es anderswo auf Farsi "Zan, Zendegi, Azadi": "Frau, Leben, Freiheit". Besonders eindrücklich sind Bilder von Studentinnen in der Stadt der islamischen Seminare, Ghom, die, mit Kopftuch angetan, einen Redner mit "Freiheit, Freiheit, Freiheit"-Rufen übertönen: seltsame Agentinnen feindlicher Kräfte. So bezeichnen nämlich die Behörden die Protestierenden.

DER STANDARD | AFP

Sexuelle Gewalt

Das Regime scheint sich immer weniger Zügel anzulegen, in Teheran wurden zu Wochenbeginn Schülerinnen eines Gymnasiums brutal angegriffen, verprügelt und Leibesvisitationen unterzogen. Berichte von Vergewaltigungen festgenommener Frauen häufen sich, aber auch Männer sollen sexuell misshandelt werden.

Während Universitäten und Schulen landesweit schon länger ein Brennpunkt sind, so scheinen sich nun auch immer häufiger Arbeiter anzuschließen. Am Mittwoch etwa wurde in einer Raffinerie in Teheran ein Streik ausgerufen. Die Behörden scheinen immer wieder von neuem überrascht zu sein. Regimevertreter beschimpfen die Protestierenden als Heuchler, Gauner, Aufrührer – und Monarchisten.

Gegen Verhaftete – die Zahl geht in die Tausende – werden erste Anklagen vorbereitet, Berichten zufolge sollen es bereits mehr als 300 sein. Auch die gefürchteten Straftatbestände "Moharebeh" (Krieg gegen Gott) und "Mofsed-e fil Arz" (Korruption auf Erden, gemeint ist die Zerstörung der sozialen Ordnung) kommen vor, sie können mit der Todesstrafe geahndet werden.

Protestzentrum Zahedan

Ein weiteres Protestzentrum, das bisher nicht viel mediale Aufmerksamkeit bekommt – vielleicht, weil es dem Bild der Revolte im Iran eine neue, komplexe Dimension hinzufügt –, ist Belutschistan im Südosten des Landes mit seiner sunnitischen Mehrheitsbevölkerung. In die Provinzhauptstadt Zahedan hätten sich schon zu Wochenmitte zahlreiche Menschen aufgemacht, um am Freitag, anlässlich des Gebets, an Protesten teilzunehmen, sagt der in Wien lebende Hessam Habibi Doroh, der sich wissenschaftlich auf die Sunniten im Iran spezialisiert hat, zum STANDARD.

Am 30. September gab es in Zahedan bereits einen "blutigen Freitag", mindestens 40 Menschen wurden von Sicherheitskräften getötet – manche Quellen sprechen von bis zu 90. Nach der Vergewaltigung eines Mädchens durch einen Polizeioffizier war es zu massiven Demonstrationen gekommen. In Belutschistan wurden auch mehrere Exponenten der Revolutionsgarden getötet, so auch wieder zu Wochenbeginn.

Sunnitischer Protest

Anführer der unbewaffneten zivilen Bewegung in Belutschistan ist der sunnitische "Scheich al-Islam" Molana Abdolhamid Esmailzayi, der – mangels Alternativen – für den aktuellen Präsidenten Ebrahim Raisi vor dessen Wahl 2021 noch mobilisiert hatte. Seine Kritik am Regime wurde danach aber immer lauter. Demnach würden Sunniten in der Islamischen Republik, die auf einer von Ruhollah Khomeini kreierten politischen Ordnung basiert, als Bürger zweiter Klasse behandelt.

Insofern sieht sich Abdolhamid als Anwalt auch für andere Minderheiten. Bei Protesten in Kurdistan – viele Kurden sind Sunniten – und Belutschistan wird aufeinander Bezug genommen, aber auch in anderen Teilen Irans werden bei Demonstrationen Slogans für Kurdistan und Belutschistan gerufen.

Radikale Kräfte in Nachbarländern

In einem Video beschuldigte Abdolhamid die Sicherheitskräfte, die Sunniten in Zahedan beim friedlichen Weg aus der Moschee wahllos getötet zu haben. Hessam Habibi Doroh befürchtet ein erneutes Massaker am Freitag. Die Anhänger Abdolhamids haben ihre Bereitschaft erklärt, ihr Leben zu opfern. Noch ist die Bewegung friedlich, aber im schlimmsten Fall könnte sie auf radikalere Kräfte jenseits der Grenze rekurrieren. Die Sunniten in Belutschistan haben enge Verbindungen nach Pakistan und Afghanistan.

Abdolhamid fiel 2021 auf, als er den Taliban in Afghanistan zur Machtübernahme gratulierte. Er legte ihnen jedoch ausdrücklich nahe, alle Volksgruppen in die Regierung einzubeziehen – etwas, das im Iran ebenfalls nicht geschieht. (Gudrun Harrer, 26.10.2022)